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Die Frau stieg an der Endhaltstelle aus dem Bus aus und versuchte zwei Tüten in ihrer Tasche zu verstecken. Sie ging langsam durch den leichten Nebel auf die andere Seite der Straße. Mit jedem Schritt schlug ihr Herz schneller. Mit jedem Schritt näherte sie sich den riesigen Containern. Sie wartete am Eingang, über dem ein Schild stand »Deutsches Rotes Kreuz«. Ein Mann mit einer grünen Uniform steckte den Kopf durch das Fenster des kleinen Häuschens neben dem Eingang hinaus und rief: »Karte bitte!« Sie zeigte eine weiße Karte mit dem Bild einer kopfbedeckten Frau und ein paar Zahlen und Buchstaben darunter. Die Karte schaute er sich verdrossen an, dann die Frau. Er gab die Karte zurück. Sie beschleunigte das Tempo ihrer Schritte und ging die Treppen des ersten Containers aus der Reihe hinauf. Sie öffnete eine Tür aus weißem Kunststoff und sah, dass ihre Zimmergenossin »Wahidah« vor dem Fenster stand.
Samah: »Ich habe dir zehn Mal gesagt, du sollst hier nicht rauchen. Ich habe keine Lust auf den Alarm und Ärger mit der Security.«
Wahidah drehte den Kopf um: »Ich habe gar nicht gemerkt, dass du hier zurück bist.«
Samah: »Ich bin erst jetzt angekommen. Guck Mal, was ich gekauft habe. Reis, Eier, Tomaten und Spagetti. Wir kochen heute was Leckeres.«
Sie legte die Tüten aus der Tasche auf den Tisch neben einen zerrissenen Briefumschlag und machte die Tür wieder auf: »Ich gehe kurz zu Sabreen. Ich muss ihre Einkäufe abgeben.«
Wahidah: »Das brauchst du nicht mehr«. Samah: »Was?«
Wahidah: »Sie haben heute die Zimmer durchsucht und alle Herdplatten wieder eingesammelt.«
Samah: »Ach nein. Sabreens Kind kann das Essen von der Kantine nicht vertragen.«

...weiterlesen "»Die Endstation« von Sorour Keramatboroujeni"

Ihre Augen wandern durch den Raum. Angestrengt beobachtet sie die kleinen Grüppchen aus Menschen, die sich aneinander vorbeiquetschen. Dies stellt sich als äußerst beschwerlich heraus.
Regale, versperren ihr die Sicht.
Leicht kneift sie ihre Augen zusammen; nichts darf ihr entgehen.
Langsam lässt sie ihren Blick über die Menschen mit ihren türkisen Einkaufstüten hinwegschweifen. Die prall gefüllten Schuhregale, die einzelnen Schuhpaare, die auf dem Boden liegen, über die man zu stolpern droht. Die kunstledernen Handtaschen, um welche sich vor allem Jugendliche tummeln. Die kleinen Stände unzähliger Sonnenbrillen, die das grelle Licht nicht reflektieren. Beim längeren Hinsehen brennen ihre Augen.
Sie blickt über die Modepüppchen, deren Outfits sie nicht annähernd so kombiniert hätte. Sieht Pyjamas, und denkt an einen grauen Regentag, ihr Bett und Kakao.

...weiterlesen "»Ohrringe« von Shady-Lane Struck"

Ein Foto. Naomi und ich in einer Umarmung. Hinter uns das nächtliche Berlin. Das war vor zwei Tagen. Nein, vor 47 Stunden und 29 Minuten. Da habe ich sie das letzte Mal gesehen. Und erst heute erfahren, dass sich danach ihre Spur verloren hat. Keiner hat seitdem von ihre gehört. Nicht ihre Familie oder irgendwelche ihrer tatsächlich engen Freunde, keiner ihrer Mitschüler. Nein, ich bin die letzte Person, die Naomi gesehen hat. Und das vor 47 einhalb Stunden. Kurz nachdem das Foto entstanden ist. Ein Polaroid. Eins von vielen an meiner Zimmerdecke. Ich habe sie schon immer als Gesamtkunstwerk gesehen. Das Chaos der ganzen Farben, Orte und Gesichtern lässt mich wieder in die spannenden und fröhlichen Momente eintauchen, die darauf festgehalten sind. Aber gleichzeitig lassen mich die eingefangenen Erinnerungen ruhig werden bis ich erstarrt daliege … So wie jetzt. Aber ruhig bin ich überhaupt nicht. Meine Muskeln sind angespannt und gleichzeitig habe ich das Gefühl, ich darf sie auf keinen Fall bewegen. Ich zucke zusammen, als ich aus den Augenwinkeln plötzlich meine Hand sehe. Meine ausgestreckten Finger nähern sich immer mehr der winzigen Gestalt von Naomi auf dem Bild oben links.

...weiterlesen "»48 Stunden« von Emma Hertzog"

Sie steht vor dem Kühlschrank und wartet auf 4 Uhr. Noch 5 Sekunden. 4,3,2,1,0. Sie öffnet ihn mit der rechten Hand und greift in das oberste Fach. Es ist leer. Ihr Herz pocht schneller, während sie den leeren Boden abtastet.
Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Es ist 4 Uhr und es befindet sich keine Vollmilchschokolade im Kühlschrank.
Die letzten 20 Jahre lagen dort jeden Tag 2 Tafeln Schokolade, Vollmilch, 32 Prozent Kakaoanteil. Heute nicht.
Sie muss augenblicklich los und Neue kaufen. Sie eilt mit genau 8 Schritten in den Flur ihres Hauses. Von der Kommode nimmt sie ihren Geldbeutel und öffnet ihn. Sie zählt ihr Kleingeld nach. Es befinden sich 6 zwei Euro Stücke darin. Gut. Sie mag nur gerade Zahlen. Sie schließt das Portmonee und geht mit 4 Schritten zur Tür. Sie öffnet diese und tritt nach draußen. Es weht eine leichte, warme Brise. In der Blumenschale steckt ein Thermometer. 18 Grad.
Nur noch die 4 Stufen der kleinen Steintreppe nach unten laufen, zwei sehr große Schritte nach rechts, dann steht sie schon vor ihrem Briefkasten. Sie hat jeden einzelnen Kieselstein, der in den Waschbeton der Treppe eingelassen ist, gezählt. Auf der obersten Stufe sind es 214, auf der zweiten 218, auf der dritten 208, aber die vierte Stufe mag sie am liebsten.
Genau 222 Steine sind darauf. Ihre Lieblingszahl.

...weiterlesen "»Ausgezählt« von Carla Fabricius"

»Herzlich willkommen, Herr Grefeld, folgen Sie mir, heute beginnt ein neuer Karriereabschnitt. Ich bringe Sie gern zu Ihrem Büro.«
In zwei Wochen wird Taddäus Grefeld sein dreißigstes Jubiläum als Angestellter der Kraftstoff-Kühne AG feiern. Und schon heute hat er es geschafft. So viele Jahre der Loyalität und Vernachlässigung von Leidenschaften haben ihm die erhoffte Beförderung ins Management eingebracht. Er wird gleich zum ersten Mal sein Einzelbüro betreten, mit Eichenholzschreibtisch und Ledersessel. Die Konjunktur ist gut zur Zeit.
Herr Grefeld schreitet langsam durch das Foyer des Gebäudekomplexes A. Sein Magen grummelt etwas, als hätte er falsch gegessen. Er hat heute Porridge gehabt, wie meistens. Meistens ging es ihm danach nicht so.
»Na, Herr Grefeld, aufgeregt?«
Er trägt seinen besten, einen grauen Leinenanzug, besonnen am Morgen ausgewählt. Ein Geschenk seiner Eltern zur Silberhochzeit. Die hatte letztes Jahr in kleinem Kreise stattgefunden. Taddäus Grefeld wird jetzt von der Sekretärin durch die Flure des Gebäudekomplexes A der Kraftstoff-Kühne AG geführt. Er denkt an den Blick aus seinem Küchenfenster und an die Krähe die heute auf dem Fenstersims gesessen hatte. Denkt ans Porridge, in dem er nebenher gestochert hatte. An die Fahrt im 10er. Da war’s losgegangen.
»Herr Grefeld?«

...weiterlesen "»T. Grefeld« von Tilman Immisch"