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29. Juni 2014 / Frühjahrskurs 2014

Heute habe ich meine Magenschleimhaut das Klo heruntergespült. In den Weiten der Selbstzerstörung ist das Zeitgefühl irgendwo auf der Strecke geblieben und der Restalkohol verbietet es mir, zurückzulaufen um es vielleicht wieder zu finden. Genauer gesagt hat er sich auch meiner Erinnerung ermächtigt, die nun bruchstückhaft durch die Nebel meines Kopfes wabert. In den Gehirnnebelungen lungert sie so rum zwischen ein paar Wortfetzen euphorischer Gespräche und Liedpassagen. Alkohol, du kleiner Schizo, viel zu gut, viel zu übel, übel und gefährlich. Fuck me now and love me later, steht auf den Plakaten. Eins haben sie falsch aufgeklebt: fuck me now and fuck me later.
Vier Tiefkühlpizzen und ich warten an der Kasse und es fällt uns schwer, die Contenance zu bewahren. Wir sehen gerade nicht besonders gut aus und können das zitternderweise nicht besonders gut verstecken. Wir fragen uns, was all die Menschen hier eigentlich machen. Sie kaufen alles to go. Coffee to go, Müsli to go, Kaugummi to go. Alle gehen zielstrebig irgendwohin. Festlich mutet das an - und doch sind die kaffeegetränkten Wege dann eher unspektakulär. Und die gelangweilten Mensch führen Monologe, die sie dir als Gespräch vor den Latz knallen, um sich dann in ihrer eigenen Berechtigung zu suhlen. Und alles was gegen das Eigene spricht, wird lautstark übertönt vom inneren Tonband der eigenen Gutheit, das nicht aufhört zu laufen, bis man aufhört zu atmen.

„Ich bleibe auch in Zeiten der Krise Abteilungsleiter der Liebe“, hat mal wer gerappt.
Manche halten Gesellschaftskritik ja für abgedroschen. Aber wenn ich mir das alles hier so angucke, mich und die Pizzen und die optimalst optimierten Menschen, dann krieg ich schon Lust auf kritische Gesellschaft und gesellschaftliche Kritik. Aber das hats auch alles schon gegeben und so richtig neu wäre das wohl nicht. Ist auch irgendwie immer weiter gegangen und den meisten wars herzlich egal.
„Zwölf neunundzwanzig, bitte!“ sagt die Kassiererin. Ich zahle und mache mich auf die Suche nach dem Eimer, in dem ich bin. Ich oder die Welt, je nachdem.

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27. Juni 2014 / Frühjahrskurs 2014

Ich stehe in dem Hinterhof zu einer Wohnung, in der ich mir ein Zimmer anschauen möchte. Gestern habe ich mit dem Vermieter gesprochen, spontan ist etwas frei geworden. Ich betrete das Treppenhaus des typischen Rotklinkers, der so verlassen in dem nackten Hinterhof einer Seitenstraße der Reeperbahn liegt. Im Hausflur hängt ein Telefon, das anfängt zu klingeln als die Tür hinter mir langsam ins Schloss fällt. Der Hauseingang ist schmal und vor mir eine weitere Tür. Ich nehme den Hörer ab und die weibliche Stimme am anderen Ende entschuldigt sich dafür, dass die Verbindung abgebrochen ist und wen ich doch gleich sprechen wollte. Ich denke an die Person, die ich wirklich am allerwenigsten sprechen und gleichzeitig so unbedingt hören möchte. Hans. Sie verbindet mich. Ein Verbindungston in der Leitung. Ich frage mich wie ich gestern Abend eigentlich nach Hause gekommen und warum ich bei meiner Mutter und nicht beim Schweden aufgewacht bin, als Hans, ein anderer als der an den ich dachte, mich fragt, wie ich heiße und wobei ich seine Hilfe bräuchte. Er klingt alt, nicht zittrig, aber lebenserfahren. Ich vertraue dieser Stimme sofort, aber erzähle ihm, dass mein Bruder verschollen ist und nur einen riesengroßen Haufen Scherben in seiner Badewanne zurückgelassen hat. Er reagiert ruhig und gelassen, worauf ich ein schlechtes Gewissen bekomme und auflege. Ein guter Hans, das merke ich mir.

Hinter der Glastür, durch die ich in das kleine Treppenhaus gelange steht ein älterer Herr, er trägt eine graue Anzugshose, Sportschuhe und einen braunen Pulli, der ordentlich hochgekrempelt ist und seine drahtigen Arme freilegt. Seine Haare sind dunkelbraun, glatt und über den Ohren abgeschnitten, sie liegen ihm fettig auf dem Kopf. Er hält einen Gegenstand fest in beiden Händen. Ich kann nicht erkennen was es ist, weil es von mehreren der dünnen Plastiktüten umhüllt ist, die man im Supermarkt für Gemüse bekommt. Er wirkt abwesend, aber ich nicke ihm zu und gehe weiter das Treppenhaus hinauf. Als ich mich noch einmal zu ihm umdrehe, reißt er energisch ein großes Loch in das Tütengewühl und guckt dabei durch mich hindurch.

Ich gehe weiter das braune Treppenhaus hoch, eine Hand immer auf der mit grünem Plastik ummantelten Rehling. Im ersten Stock, dem letzten in dem Haus, stehe ich vor drei Türen, allesamt nur angelehnt. Ich entscheide mich für die, die mir am nächsten liegt. Als ich die Türe öffne, falle ich fast über ein Feldbett, das mir das Eintreten in den Raum verhindert. Der gesamte Raum ist voll mit Betten. Auf dem vor mir liegen die weißen Laken ordentlich zusammengefaltet, am Ende eine senfgelbe Decke, wie sie auch beim Bund verwendet werden. Nur eben in senfgelb. Ich bin irritiert und klettere darüber, wobei ich versuche die ordentlichen Laken nicht zu zerknittern. Neben jedem Bett steht ein kleines Holzregal, mit einer Lampe. Es sind insgesamt fünf Betten, aber sechs kleine Regale. Rechts von mir sitzt ein junger Mann mit einem längeren schwarzen Bart, in weiter Jogginghose und t-Shirt und trinkt einen Chai, er guckt mich an, nicht unfreundlich, aber lächelt auch nicht und widmet seine Aufmerksamkeit wieder seinem Tee und seinen Gedanken. Es gefällt mir, dass er mich nicht wie die meisten Männer, denen ich begegne, vorallem nachts auf dem Kiez, von oben bis unten mustert um meine Fickbarkeit auszurechnen. Ein Typ hat sich zwei Betten zusammen gezogen und liegt in der Mitte des Raumes. Seine Haut ist dunkel, aber ich kann nicht ansatzweise einschätzen wo er herkommt. Afrika tippe ich in meiner groben Unwissenheit und dem Wunsch jetzt hier zu kategorisieren, und Sachlickeit in diesen Raum zu bringen, der sich mir noch nicht erschließen lässt. Die beiden sind die einzigen Personen in dem Zimmer und da sie sich nicht für mich interessieren, habe ich nicht das Gefühl zu stören, außerdem habe ich ja auch einen Termin, und gehe auf die Balkontür zu.

Sie lässt sich nach außen hin öffnen, ich könnte also mein Feldbett vor die Türe stellen. Der Luxusplatz, sozusagen. Auf dem Balkon ist auch genügend Platz für ein Klappbett, das bringt natürlich etwas mehr Privatsphäre. Der Boden und die Mauer des kleinen Balkons sind taubengraublau gestrichen und die erste Farbe, in dem gesamten Haus, die mir wirklich gefällt. Die Abgrenzung zur Nachbarwohnung ist eine Mauer, die mir nicht mal zur Hüfte reicht. Dahinter steht eine Frau, Mitte vierzig, sie lächelt mich an und entblößt ihre schlechten Zähne. Ihre Haare sind lockig und grau, und die dicken Arme hängen seitlich schlaff aus ihrem gelbbuntem Putzkittel. Ich lächle zurück und frage sie, ob ich wohl ein Bett auf den Balkon stellen könnte. Sie bejaht und sagt, dass der Mann, der vor mir den Platz gemietet hatte, das im Sommer auch oft gemacht hätte. Bevor er erstochen wurde natürlich. Das sagt sie mit gedämpfter Stimme und ich verlasse den Balkon mit einem Nicken. Zurück durch den Raum, über das Bett, durch das Treppenhaus, vorbei an dem Mann mit den Tüten, frage mich ob er der Vermieter ist, vorbei an dem Telefon mit Hans und freue mich mein Fahrrad zu sehen, glitzerndes hellblau, knallgelber Fahrradkorb und fühle mich weit weg von mir selbst.

Ich fahre die nächste Straße runter zum Hafen, nicht weil ich dort unbedingt hin möchte, sondern weil ich einfach nur schnell bergab rollen will ohne die Pedale treten zu müssen. Der harte Luftzug in meinem Gesicht tut gut. Es nieselt und ich fühle mich frei. Von all dem gerade Erlebten hinterlässt die Badewanne mit den Scherben den stärksten Eindruck. Die feinen Regentropfen stechen mir wie Nadeln ins Gesicht, auf meine halbgeschloßenen Augenlider, meine Lippen, sie stechen mir in die Wangeknochen und durch die Zunge, wenn ich den Mund öffne. Ich stelle mir ein Wasserglas vor, eins mit diesen ganz schmalen Rändern, bei denen man immer Angst hat sie könnten direkt im Mund zerbrechen. So eins stelle ich mir vor und wie hineinbeiße. Es blutet nicht, es splittert und knackt, wie harter Zucker. Ich stelle mir vor das herausgebissene Stück Glas zu zerkauen. Ohne Ekel oder Schmerz jeglicher Art. Nur das knisternde, knuspernde helle Geräusch des durchsichtigen Materials. Ich stelle es mir wunderschön vor. Selbst das leise Einschneiden in die Innenseite meiner Wange, wie das Glas einfach von innen nach außen durch das weiche Fleisch zieht. Ganz leise und sanft. Wenn man sich das ohne Blut vorstellt ist das sehr schön. Mit dem Gedanken an Blut zieht sofort die Idee von Schmerz und Verletzung auf. Ich konzentriere mich wieder auf die Regentropfen und fahre direkt runter an die Elbe. In zwei Stunden oder drei treffe ich eine Freundin, bis dahin esse ich ein Fischbrötchen und denke nicht an meinen Vater oder Kanada.

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19. Juni 2014 / Frühjahrskurs 2014

Ich drücke das Gaspedal durch und habe richtig Lust, dem plötzlich vor mir ausscherenden Passat kräftig auf die Stoßstange zu fahren. Im letzten Moment bremse ich und hupe sekundenlang. Als der Greis wieder nach rechts wechselt, beschleunige ich und schüttele mit dem Kopf, während der Alte am Steuer des Passats mich verloren anblickt. Ich schalte den Scheibenwischer eine Stufe höher. Seit Egestorf schüttet es wieder wie aus Eimern auf die Autobahn, nachdem das Gewitter über Norddeutschland schon kurz nach meiner Abfahrt in Hildesheim vorbei gewesen zu sein schien. Der Sommerregen prasselt mit solch einem Lärm auf meine Windschutzscheibe, dass ich das Radio lauter stellen muss. Aber überall läuft wieder nur Musik, die am Computer gemacht wird. Ich trommle mit den Fingern auf das Lenkrad und versuche zu ergründen, warum ich so gereizt bin. Den Stau am Dreieck Walsrode habe ich jetzt schon fast eine halbe Stunde hinter mir, aber er hat mich knapp eine Dreiviertelstunde gekostet und ich kann ihm meine Verspätung nicht verzeihen. Der Regen will nicht aufhören und die düstere Wolkendecke taucht die Autobahn in ein trostloses Grau, aber immerhin zeigen die blauen Tafeln eine immer kleiner werdende Zahl für die Entfernung nach Hamburg.

Um zwanzig nach acht steige ich aus dem Auto und gehe zu meiner Wohnung. Der Weg wird schätzungsweise mehr als zehn Minuten dauern, weil es viel zu wenige Parkplätze gibt in dem stadtplanerisch skandalösen Stadtteil, in dem ich wohne. Ich zücke mein Handy. Das Display teilt mir mit, dass ich zwei Anrufe verpasst habe. Der erste Anrufer hat eine Nummernunterdrückung, der andere muss jemand aus der Redaktion gewesen sein, das erkenne ich an den ersten Ziffern der Nummer. Ich bin schon wieder den ganzen Tag unruhig gewesen, genau genommen seit gestern Vormittag. Deshalb entscheide ich ausnahmsweise, dass es besser sein wird, um diese Uhrzeit nicht mehr dienstlich zu telefonieren, während ich über die vom Regen dampfenden Bürgersteige laufe.

Mittlerweile ist es trocken und das Sommergewitter verzieht sich Richtung Horizont. Ich kann eigentlich gerade überhaupt niemanden sehen und bereue es, dass ich jetzt schon seit über fünf Wochen einen alten Freund bei mir beherberge, weil seine Freundin ihn aus der gemeinsamen Wohnung geschmissen hat. Wohngemeinschaften bin ich nicht gewohnt und ich war immer ein Gegner davon, auf engem Raum mit halb fremden Menschen zusammenzuwohnen. David ist zwar kein Fremder, trotzdem stören mich einige seiner Angewohnheiten und seine ständige räumliche Nähe in meiner Dreizimmer-Wohnung.

Ich fische gereizt den Flyer eines Pizza-Lieferanten aus meinem Briefkasten, obwohl ich einen Hinweis darauf angebracht habe, dass keine Werbung einzuwerfen sei. Dann haste ich durch das Treppenhaus zu meiner Wohnung im dritten Stock. Aus der Tür dringt schreckliche Musik nach draußen.

David?, rufe ich fragend und schließe die Wohnungstür hinter mir.

Ja-a!

Ich ziehe meine Schuhe aus und luke durch die Tür zu meinem Arbeitszimmer, das er bewohnt. Er steht vor einer Staffelei und arbeitet an einer Leinwand. Ich kann die Konturen einer weiblichen Figur erkennen und dass sie ein blaues Kleidungsstück trägt. Dass er malt, wusste ich bisher nicht. Widerspenstiger Zigarettenrauch schwappt mir entgegen.

Hast du schon gegessen?, frage ich.

Ja und es ist noch genug für dich da.

Danke.

Ich male nur noch ihr Haar zu Ende, setze mich gerne zu dir, bietet er an.

Tu mir einen Gefallen und lüfte mal, es riecht, sage ich und deute auf das Fenster.

Klar, entschuldige bitte.

Sag mal, seit wann malst du?

Seit heute.

Und wer ist das bitte schön?

Die Blaue, grinst er.

Die Blaue? Du hast sie nicht mehr alle.

Erinnerst du dich?

Klar.

Du Idiot hast dich nicht getraut, sie anzusprechen!

Ich muss aufs Klo, sage ich und verschwinde aus der Tür.

David hat leider nicht abgewaschen und in der Spüle stapeln sich ein paar Teller, seine Espressotassen und eine ganze Menge Besteck. Ich drücke meine Kiefer zusammen und balle mit beiden Händen Fäuste. Ich hatte ihn extra darum gebeten, weil ich diese Berge genauso hasse wie Trittbrettfahrer, für die das Mitgezogenwerden zur Selbstverständlichkeit wird. Ich ertappe mich, wie ich streitbare Punkte an ihm suche. Wahrscheinlich hat er es einfach heute einmal vergessen.

Ich habe überhaupt keine Lust, beginne aber doch mit dem Abwasch. Seit mehreren Wochen wohne ich jetzt in einer Zweier-WG, in deren kleiner Küche sich tagelang auf seinen Abwasch wartendes Geschirr stapelt. Ich mache mir ernsthaft Sorgen, dass ich mein Arbeitszimmer neu streichen kann, wenn David auszieht und vom Zigarettenrauch vergilbte Tapeten hinterlässt. Als ich mit dem Abtrocknen beginne, kommt er in die Küche und setzt sich auf die Holzbank an dem kleinen quadratischen Tisch in meinem Rücken.