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27. Mai 2016 / Frühjahrskurs 2016
von Sara Hanfler

Sie stapft und stampft und trampelt. Sie kreischt und stöhnt und lacht.

Sie ist ein Erdbeben, das an ihrer Zimmerdecke, die mein Fußboden ist, rüttelt und mich aus dem Bett schmeißt.

Sie verschiebt Möbel und patrolliert nachts ihre Wohnung; wie ein Zirkustier im Käfig ist sie immer wachsam, immer angespannt, immer auf einen Moment pochend, in dem die Aussicht auf Flucht besteht.

Tagsüber findet sie augenscheinlich Ruhe. Doch diese ist trügerisch; von der Sorte, wie sie vor einem Sturm einkehrt, wenn die Landschaft den Atem anhält. Denn zwar schweigen die weiß-roten Porzellanbären, die sich in verschiedenen Posen auf ihrem Fenstersims räkeln. Dennoch hat man, wenn man im Treppenhaus an ihrer Tür vorbeigeht, immer das Brennen eines misstrauischen Auges durch den Spion im Nacken.

Sie ist ein wildes Tier in einer Holzkiste.

Sie nagt und kratzt an den erstickend engen Wänden ihres Gefängnisses. Und sie schreit.

Anfangs schrie sie ihren Mann an; mittlerweile schreit sie nur noch der Leere in ihrer Wohnung entgegen.

Wenn man an ihrer Tür klingelt und sie bittet, ein wenig leiser zu wüten, sagt sie einem, man solle doch die Polizei rufen, wenn's einen störe. Es sei ihr egal.

Das Schreien ist ein Ritual. Ein letzter Akt des Aufbegehrens gegen den sich vor ihr aufbäumenden Koloss aus Zeit und Langeweile.

Das Schreien frisst sich wie glühend heißes Metall durch das teigige, leblose Fleisch ihres Alltags.

Sie schreit von zwölf Uhr nachts bis fünf Uhr morgens. Dann geht sie schlafen.

Und dann beginnt's von vorn.

16. Mai 2016 / Frühjahrskurs 2016
von Bernadette Schlaffner

18. Mai 2016 | Hamburg

Als ich gerade meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehe, die Augen vom Monitor abwenden und aus dem Fenster in die Ferne starren, bemerke ich eine Gruppe von vier zehn- bis zwölfjährigen Jungs unten an den Müllcontainern. Sie lachen, lassen einen Fußball zwischen den Containern hin und her springen. Glas. Hausmüll. Papier. Wertstoff. Bioabfall. Einer von den Jungs leert einen Karton in den Glascontainer.

Ich frage mich gerade, wieso das scheppernde Geräusch ausbleibt, Glas ist nicht gleich Glas, Fensterglas ist Restmüll, als sich die Jungs plötzlich erschrocken zum Haus wenden. Zur Tür nebenan. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Nachbarin, die Arme in die Hüften gestemmt, einen ernsten Blick im Gesicht. Glas ist nicht gleich Glas. Aber es scheppert. Das Recycling von Altglas spart sechzig Prozent an Energie gegenüber der Neuproduktion aus Primärrohstoffen. So sehr ich mich auch verbiege und aus dem Fenster um die Ecke zu linsen versuche, ich sehe die Nachbarin nicht. Seltsamerweise höre ich sie auch nicht. Doch ich spüre ihre Anwesenheit. Die Blicke der Jungs. Der Knabe am Glascontainer lässt verwirrt den Karton los, in das schwarze Loch fallen. Auch diesmal kein Scheppern.

„Nein!“, ruft einer seiner Kumpels, so interpretiere ich zumindest seinen Gesichtsausdruck. Der Junge hüpft zu seinem Kompagnon und reißt ihm den zweiten, leeren, Karton aus der Hand. Der Junge mit dem Fußball steigt auf das Treppengeländer, schaut in den Schlund des Containers, ratlos, hilflos, überlegt kurz hineinzugreifen, hineinzuklettern. Das Recycling von Altpapier spart ein Drittel an Energie gegenüber einer Neuproduktion. Währenddessen landet der zweite Karton nebenan im Hausmüll. Im selben Moment begreifen sie den Fehler. Das Recycling von einer Tonne Altpapier spart eineinhalb Tonnen Kohlenstoffmonoxid gegenüber dem Verbrennen im Restmüll.

Erschrocken wandern die Blicke der Jungs wieder zur Nachbarin, die dort in der Haustür stehen muss, ich kann es mir anders nicht erklären. Nervös schaut der eine, anscheinend der Anführer, durch die Runde und marschiert dann los. Schnell weg. Nicht umdrehen. Intensiver Blickkontakt führt zum Anstieg des Oxytocin-Spiegels. Anstarren ist tödlich.

Eine im Rahmen des Schreiblabors zum Thema Recherche überarbeitete Version einer Bahnvorstellung.