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Die beiden alten Damen stehen vor dem Eingang der Altersresidenz und warten. Sie haben sich feingemacht, denn es geht heute in die Oper.

„Mal sehen wer uns heute fährt?“, überlegt eine der beiden. Die andere stützt sich neben ihr auf einen Spazierstock mit einem goldenen Ring knapp unter dem Knauf. Die Frage aus Richtung des verschwommenen Rollators bekommt sie nur als unverständliches Geräusch ins Ohr gestrudelt.

„Was?“, fragt die Stockabgestützte. „Mach dein Hörgerät an!“, flüstert die Verschwommene mit Rollator. „Wer spricht denn da, Brigitte oder Lilo?“, fragt sie in Richtung des Rollators.

Das da ein Rollator steht, weiß sie. Nach vier Jahren in der Altersresidenz, kann man einfach unterscheiden, ob es ein Rollator, ein Rollstuhl oder ein Elektromobil ist, was einem über den Fuß fährt. Und so kann sie auch ihre Freundinnen auseinander halten. Die Gisela im Rollstuhl, Brigitte und Lilo am Rollator, und Ingrid die allen den Fuß mit dem Elektromobil plattiert.

...weiterlesen "»Die alten Damen« von Leven Hennig"

Meine Welt besteht vor allem aus sechsundzwanzig Zeichen, die mir in den unterschiedlichsten Kombinationen begegnen, damit ich sie entschlüssle; gelingt mir das nicht, werde ich mein Lebtag im Labyrinth gefangen bleiben. Mir steigt ein Geruch von Papier, Moder und Chemikalien in die Nase, der je nach Untersuchungsgegenstand variiert. Eine laute Stimme schreckt mich aus meinen Gedanken.
„Wo finde ich Borges?“
Ich schaue hoch: Vor mir steht eine junge Frau, von etwa vierzig Jahren; ihr Gesicht ist noch nicht runzelig, bis auf eine sich deutlich abzeichnende Zornesfalte.
„Borges ist überall“, sage ich und denke an das Labyrinth, das mich tagein, tagaus umschließt, mich niemals freigibt, mein Denken bestimmt und jegliche mir verbleibende Lebensenergie in Anspruch nimmt.
„Ich suche seinen Erzählband. Die Fiktionen.“
„Zweite Etage, Belletristik-Abteilung unter B.“
Die Zornesfalte an ihrer Stirn kneift sich zusammen und die kleine Rinne vertieft sich; wenn ich dazwischen eine Buchseite legte, würde diese von dem Druck der Haut festgehalten werden.

...weiterlesen "»Das Labyrinth« von Marian Bansmann"

Dein Name wurde aufgerufen. Du standest auf, strichst dein Kleid ein wenig glatt und machtest dich auf den Weg zur Bühne. Es war ein wichtiger Tag in deinem Leben. Der Tag, an dem du dein Abiturzeugnis bekamst. Es ließ sich
nicht vermeiden, dass du ein Grinsen auf deinem Gesicht trugst und keiner erwartete es von dir. Es war an sich keine große Sache, dass du auf die Bühne kamst, viele andere taten das vor und nach dir auch. Ein paar Worte
von dem einen, ein paar von dem anderen, ein paar warme Händedrücke und dein Abiturzeugnis. Dann stelltest du dich bei den anderen auf der Bühne auf und der Nächste wurde aufgerufen. In den Reihen entdecktest du
deine stolzen Eltern.
Ein wenig traurig fandest du es schon. Eine Schule, die du für acht Jahre besucht hattest. Eine Schule, an der du schöne und nicht so schöne Erfahrungen gesammelt hast. Aber all diese Erfahrungen sind wertvoll, du hast sie hier an dieser Schule gemacht, hier mit den Menschen, die dich dein halbes Leben bis jetzt begleitet haben. Und du möchtest diese Erfahrungen und Erinnerungen für Nichts in der Welt umtauschen. Denn woanders, wann anders und mit jemanden anderen hättest du nicht die Gleichen machen können.

...weiterlesen "»Acht Jahre« von Kathrine Rüdiger"

Mittagspause. Verdammt! Ich schmeiße einen Stein. Platsch. Ich lehne mich über das Brückengeländer und starre nach unten. Den Stein kann ich nicht mehr sehen. Ich lasse meine Arme und meinen Kopf nach unten hängen. Pendeln. Mein Kopf wiegt jetzt doppelt so viel. Gleich platzt er. Ich versuche mit meinen Zehen Moos von der Brücke zu kratzen. Unter dem Moos ist der Beton richtig hell. Ich bücke mich und fahre mit meinem Finger den Fleck nach. Mein Blick verschwimmt. Ist jetzt dieser oder dieser Moosfleck der echte? Es ist heiß. Meine Kniekehlen sind nass. Ich stehe auf und gehe in den Schatten. Das Gras hier ist lang. Ich versuche einen Grashüpfer zu sehen. Aber einen grünen großen, keinen von diesen braunen Babys. Letztes Jahr hatte Mama mir im Sommer fast jeden Tag Zauberwasser gemacht. Ich lag dann mit ihr in der Hängematte, an ihren dicken Bauch gekuschelt. Mit meinem Zauberwasser und manchmal ein paar Keksen. Eine kleine Schwester hatte sie immer wieder gesagt. Ja eine kleine Schwester haben war toll.

...weiterlesen "»Die Katze vom Nachbarn fangen« von Clara Paulick"

Mitch konnte den Stolz spüren, der seine Brust anschwellen ließ, bei der Planung seiner zweiten Tat war er sich des Risikos bewusst gewesen, das er beim Betäuben der Techniker eingehen würde. Aber er war wieder einmal perfekt gewesen. Kein Grund zur Sorge. Ordnung war seine stärkste Waffe. Solange er sie besaß würde alles perfekt laufen. Nach Plan. Dass Michaela direkt vor ihm stand, fiel ihm erst auf als ein starker Geruch nach Sandelholz und Pfirsichen in seine Nase stieg. »Es freut mich sehr, dass Du meine Artikel verfolgst. Ich hoffe Du interessierst dich wirklich für sie und versuchst nicht nur höflich zu sein. Wenn das so ist musst du sie auch wirklich nicht weiterlesen. In letzter Zeit drehen sie sich irgendwie nur noch um so schreckliche Sachen. Das verkauft sich natürlich auch gut, aber ich habe das Gefühl es wird immer schlimmer. Was ich schon wieder für einen Fall für heute Abend bekommen habe …« Der süßliche Geruch kam noch näher und sie sprach mit gesenkter Stimme weiter: »Das muss natürlich wieder unser Geheimnis bleiben, aber es geht um einen Mann, der … seine eigene Tochter umgebracht hat.« Der Geruch entfernte sich wieder etwas. »Also diese Verrückten übertreffen einander immer wieder.«

...weiterlesen "»Mördernachrichten« von Emma Hertzog (Auszug)"