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Gideon sah in tausende Gesichter und fragte sich, ob es unter ihnen jemanden gab, der fühlte, was er gerade verspürte. Tausende, rotbeleuchtete Gesichter, die in der Dunkelheit dämonisch wirkten und die mit weit geöffneten Augen, ernst zu ihm hochsahen. Die Farbe wechselte zu einem orange, gelb und von dort zu einem grellgrün, bis die Gesichter blau strahlten. Die bebende Musik wurde leiser und verstummte, an ihre Stelle trat ein hallendes Klatschen, wie prasselnder Regen. Jetzt ist es soweit, dachte Gideon, jetzt wird die Entscheidung fallen, jetzt wird sich alles ändern. Wieder sah er in die verzerrten Gesichter und wusste plötzlich, dass auch sie es wussten. Es könnte sich alles ändern und er würde heute Nacht in die Geschichte eingehen. Aber wenn er verlor, war Gideon nur ein weiterer Mann, der gescheitert war. Nichts, rein gar nichts, würde sich dann ändern, er würde alle enttäuschen. Er hatte es bis hierhergeschafft und würde es noch weiter schaffen. Die Frau mit den bunten Nägeln griff in die Schale. Sie sah durch ihre federartigen Wimpern auf den Umschlag. Die blauen Gesichter verzogen sich zu neugierigen Grimassen. Sie öffnete ihn, ihre Augen wurden groß. Sie lehnte sich vor, Gideon zurück. Ihre Lippen ans Mikrophon gepresst. Gideons vor Glück bebend. Hatte er gewonnen? Hallendes Klatschen. Regen.

Ein großes, kaltes Haus und ein zweites großes, kaltes Haus und die beiden Freundinnen je in einem der beiden Häuser. Sie sind zurzeit an verschiedenen Enden des Kontinents, schreiben einander häufig Briefe, vermissen einander und berichten einander von sich.
‘Ich fühle mich so einsam ohne meine Freundin, hier ist niemand, es ist wirklich eisig, ich vermisse dich’
‘Wann kommst du endlich wieder, es fühlt sich wie Ewigkeiten an, seit wir uns zuletzt gesehen haben’
‘Egal, wie viele Streichhölzer ich anzünde, sie gehen aus, bevor ich das Kaminholz stark entflammen kann.’
So geht es weiter, sie vergessen, in ihren Briefen auf die Sätze der anderen einzugehen.
Sie haben selber viel im Kopf, Probleme, Feuer zu machen und sehr große Sehnsucht.
Die großen, kalten Häuser bleiben die großen, kalten Häuser für eine ganze Weile.
Keine Decken, die sie in den hintersten Winkeln der Häuser fanden, helfen.
Auch das Feuerholz tut es, als es dann brennt, nicht genügend. 
Eine bedeutende Frage kommt bei der einen sehr bald auf.
Warum ist sie so weit weg von ihrer Freundin?
Sie muss wirklich schnell zu ihrer Freundin zurück.
Das ist es auch, was sie tut. 
In ihrem Haus umarmen sie sich. 
Und dann merken sie es.
Es war keine Kälte.
Etwas anderes fehlte.
Ihre Freundin.
Freundschaft.

Manchmal wache ich morgens auf und brauche eine neue Jacke. Ich stehe auf und starte meinen Tag. Ganz normal. Aber der Gedanke lässt mich nicht los. Beim Frühstück machen brauche ich diese Jacke. Beim Zähneputzen, beim Schuhe anziehen. Ich brauche auch einen neuen Haarschnitt und einen neuen Namen. Ich fahre in der U-Bahn und denke an meine neue Jacke. Dann kommt das schlechte Gewissen. Ich habe mir schon letzten Monat eine Jacke gekauft. Wenn ich mir einen Kaffee kaufe, wische ich den Gedanken an die Jacke weg, verbanne ihn in den hintersten Winkel meines Kopfes. Ich gehe dann durch die Glastür, durch die ich jeden Morgen gehe und hänge meine Jacke über meinen Stuhl. Da ist die Jacke wieder. Ich brauche sie beim Passwort eintippen und in der Mittagspause. Kratzend sitzt sie in meinem Kopf und sagt, dass sie da ist. Ich stehe dann immer wieder auf und schaue in den Spiegel. Ich sehe doch gut aus, sagt er. Ich gehe wieder durch die Glastür. Ich muss noch einkaufen. Ich sehe mich in den Schaufenstern. In meiner Jacke, die ich nicht habe. Meinen Haarschnitt, den ich nicht will. Ich setze mich auf einen Friseurstuhl. Ab! Und gehe weiter. Meine neuen Haare reichen doch. Ein Kleidergeschäft. Ich gehe mit meiner neuen Jacke über die Straße. Wenn ich zu Hause bin, hänge ich sie in die Garderobe. Die anderen kommen in den Schrank. Ich esse Brot mit Käse. Fernsehen. Schlafen. 
Manchmal wache ich auf und brauche eine neue Jacke. 

Es war eine windige, aber stille Vollmondnacht, nur ab und zu ging ein Mensch durch die Straßen. Sie hatte trotz des unheimlichen Windes und der gestaltenartigen Schatten, die der Vollmond hervorbrachte, keine Angst und ging ohne ein Ziel weiter und weiter. Sie war alleine und wollte auch nicht, dass jemand bei ihr war. Sie war froh, dass nur wenige Menschen unterwegs waren.
Sie wohnte ganz alleine in einer kleinen Dachgeschosswohnung in einer kleiner Stadt an einem kleinem See. Fast immer war sie froh gewesen, doch nun nie mehr. Am Tag zuvor war ihr bester Freund, ihr Klassenkamerad in der gesamten Schulzeit, aus der Stadt gezogen. Er ist zu seiner zukünftigen Frau gezogen. Nicht etwa, dass sie eifersüchtig war, nein, sie wollte nur, dass sie ihn jederzeit besuchen könnte. Sie würde ihn vermissen.
In dieser Nacht wollte es ihr nicht in den Kopf kommen, dass er weg war, 75 Kilometer entfernt von ihr, nicht mehr zwei Blöcke. Es war so ein neuer Gedanke, an den musste sie sich gewöhnen. Sie merkte, das sie sich immer weiter ihrer Wohnung näherte. Warum nicht, dachte sie. Sie kam an seinem Block vorbei, blieb stehen, sah hinauf in den zweiten Stock. Der Wind wehte noch immer stark. Ihr Haar wehte zur Seite. Sie dachte, dass er später einmal ein berühmter Mann sein würde. Dann wird sie sich denken: Weggezogen ist er – weg aus einer so wunderbaren Stadt.

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Er zielte sorgfältig und schoss ihr den Pfeil mitten in die Brust. Den Bogen befestigte er vorsichtig an seinem Rücken, ohne dabei seine Flügel zu berühren und der Köcher raschelte leise; daraus lugten rote und schwarze Pfeilfedern hervor. Als er sich umdrehte, um den langen Weg nach Hause anzutreten, fiel ein langer Schatten auf seinen kleinen Körper, der jegliches Licht verschluckte. Aus der Dunkelheit ertönte ein Flüstern: „Sie gehört mir. Du darfst sie mir nicht nehmen.“ 
Der Kleine seufzte. „Ich hatte dich schon erwartet. Sie muss sich von dir lösen.“ 
„Sie gehört mir.“ 
„Du bist tot und sie lebt. Schluss aus.“ 
„Wie kannst du es wagen? Ich werd‘ dir zeigen, wer hier tot ist.“ 
„Kennst du die Geschichte vom Fluss und dem Fisch?“ Er schnippte mit der Hand und eine kleine, hellrote Flamme stieg aus seiner Handfläche empor. Der Schein ließ den Schatten ein Stück zurückweichen. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Nein? Sie geht so: Eine Flussgöttin verliebt sich in einen bunt schimmernden Fisch, der in allen erdenklichen Farben leuchtet. Für immer will sie den Fisch an ihrer Seite wissen, ihn lieben und nie mehr loslassen. Eines Tages kommt ein Angler und fängt den Fisch. Die Flussgöttin ist schwer betrübt, kein Licht fällt mehr durch die Wasseroberfläche und sie lässt all ihre Pflichten schleifen. Das Problem wird immer schlimmer. Also werde ich gerufen und was mache ich? Ich suche einfach einen neuen Fisch und verschieße meinen Pfeil. Das ist der Lauf der Dinge.“