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An diesem Abend, Mitte Juli, da war die Sonne gerade am Untergehen, da räumst du das Geschirr vom Esstisch und holst noch eine Flasche Wasser, bevor du dich wieder setzt, wo du immer sitzt. Alle sitzen wie immer, alles ist wie immer, die Küchenlampe taucht euch in gelbes Licht und der Kühlschrank
brummt alle paar Minuten leise. Dann klingt das Gespräch aus und kurz danach fällt da ein Satz, mit langem Seufzer und ernster Pause davor, und du kannst ihn dennoch nicht ernstnehmen, so aufgebraucht ist er, ein Gemeinplatz aus jedem Melodrama: »Wir müssen euch etwas erzählen.«
Es klingt lächerlich, es passt nicht in die Szene, in die Stimmung von gefüllten Mägen und Familiengesprächen. Du und dein Bruder, ihr macht noch einen alten Witz darüber, aus Zeiten von Hochbetten und Einschlaf-CDs. Er läuft ins Leere, nur ihr beide kichert und erntet ernste Blicke, die
Heiterkeit verpufft, und eine wabernde Stille wischt euch das Grinsen von den Lippen.
Du runzelst die Stirn. »Was soll man in einem solchen Moment denken?«, denkst du. Diese Eltern-Kind-Gespräche, davon gibt es bei euch nicht viele, du kannst dir nichts vorstellen, deine Mutter ist doch schon zu alt, um noch mal schwanger zu werden, ihr habt das Haus doch gerade erst abbezahlt, wäre jemand nahes gestorben, das hättet ihr doch eher mitbekommen. Du überlegst, was du angestellt haben könntest, vielleicht auch dein Bruder, was es Schlimmes gibt, was sie herausgefunden haben könnten, dir fällt nichts ein, wegen ein bisschen Gras würden sie nicht so reagieren.

...weiterlesen "»Von bleibenden Schäden« von Flora Kühn"

Sie wollten im siebten Bezirk essen gehen, sie wollten sich im Kino einen Film anschauen, aber es ist Freitagabend und schönes Wetter und Pauline raucht drei Zigaretten und wartet seit einer halben Stunde und bekommt keine Antwort: sie wurde versetzt. Neidisch beobachtet sie die Menschenmassen, die in kleinen Gruppen an ihr vorbeiziehen und bekommt schlechte Laune. Sie hat extra den ganzen Tag lang nichts gegessen, ein Sommerkleid angezogen und ihr neues Paar offene Schuhe. Sie hat Lippenstift aufgetragen, viel Parfum, und sich die Wimpern getuscht. Jetzt verläuft die Wimperntusche, denn Pauline hat angefangen zu weinen. Mit zittrigen Händen raucht sie eine vierte Zigarette, drückt sie mit der Schuhsohle aus, klappt einen Taschenspiegel auf, um sich nachzuschminken. Es gelingt ihr nicht wirklich; die Wimperntusche klumpt und der Concealer bildet eine Kruste, da, wo ihre Tränen einen Salzrand zurückgelassen haben. Der Lippenstift ist an den Rändern verlaufen und in den Falten ihrer Unterlippe eingetrocknet. Pauline wischt noch ein wenig an ihrem Mund herum, dann klappt sie den Spiegel zu, steht auf, und geht zum nächsten Supermarkt.

Im Supermarkt ist es hell und bunt und voll mit Produkten. Pauline lässt sich Zeit. Pauline hört einen Podcast über die Auswirkungen der Merkur-Rückläufigkeit auf ihr Sternzeichen und füllt den roten Einkaufkorb mit giftgrünen Apfelringen von Haribo, Eis von Ben&Jery‘s, Aufbackbrötchen, Erdnussbutter, Honigwaffeln, getrockneten Tomaten, Feta- Käse, und einem Snickers Riegel für den Weg. Pauline zahlt 23 Euro und 75 Cent mit Karte. Pauline fährt in die Wohnung. Pauline schiebt die Brötchen in den Ofen. Pauline schaut sich ein YouTube Video mit astrologischen Vorhersagungen für den kommenden Monat an. Das Video ist achtundvierzig Minuten lang. Pauline isst achtundvierzig Minuten lang. Die Mitbewohner gehen auf eine Party. Pauline geht ins Badezimmer. Pauline geht vor der Kloschüssel in die Knie, sie kotzt und ihre Kotze klumpt wie Wimperntusche.

...weiterlesen "von Anne Luise Rupp"

Sie stehen beide da. Sie haben mich bemerkt.
Sie wissen, sie kennen mich. Aber sie wissen nicht, von wo, von wann und beide kommen nicht darauf, wer ich bin. Kennen sie mich von früher? Aus einem anderen Leben? Bin ich in ihren Träumen vorgekommen?
 
Ich sitze auf einer Parkbank, es ist Sommer. Das kleine Mädchen starrt mich aus großen, runden Augen an. Sie steht neben der Bank, auf der ihre Mutter sitzt. Sie lässt die anderen Kinder spielen, es stört sie plötzlich nicht mehr, ob sie etwas verpasst. Der Spielplatz, die Schokolade, die ihre Mutter ihr hinhält, sind nun nicht mehr wichtig.
Entscheidend bin nur ich.
 
Wer bin ich? Wieso lächle ich sie so an? Wieso hört sie auf einmal ein Lachen in ihrem Kopf, von dem sie weiß, dass es meins ist? Dabei hat sie mich noch nie lachen gehört. Dabei hat sie noch nie mit mir gesprochen. Mich noch nie gesehen.
Das Mädchen streicht sich eine helle Strähne aus dem Gesicht, die Haut an ihrem Unterarm ist noch nicht narbig. Sie nimmt die Schokolade, stopft sie sich in ihren Mund, ohne mich aus den Augen zu lassen und wischt sich die kleinen Hände an ihrem Sommerkleid ab.

...weiterlesen "»Zwischen zwei Welten« von Lara Horvath"