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22. Juni 2016 / Frühjahrskurs 2016
von Linda Schyma

Liebe Welt,

ich sitze an einem Baum und höre das Schnattern der Vögel über mir; aber sie sind es nicht, die mich interessieren, auch nicht das leichte Rauschen des Windes, auch nicht die Verspannung in meiner Schulter oder das Armband an meinem Handgelenk, das sich langsam löst, einst sorgsam von einem Freund geknotet.

Ich lehne und achte auf das Tier, das hinter mir sitzt, auf einer geraden Linie, sodass ich sein Gesicht nicht erkennen kann; im Rücken spüre ich die Konturen des Seils, das es an den Baum kettet, hier hält, auf dass es sprechen möge.

Dies ist eine Wiedergabe seiner Geschichte; ich bin nicht befugt, sie zu verfälschen oder aber durch unaufmerksames Zuhören zu verzerren; also atme ich ein, versuche, mich trotz Verspannung gerade und aufrecht zu setzen und beginne, zu lauschen.

„Gestern habe ich zwei Kaninchen getötet. Ich saß so da und habe ihren Kadavern beim Tropfen zugesehen; das Blut ist langsam und gleichmäßig geflossen, von der Leine, an die man sie sorgsam aufgeknöpft hatte und die schon von Fliegen umschwirrt war, ein Zeugnis der Grausamkeit, die an diesen Ort Einzug hält, ja ihn schon lange unterwandert, in den Ritzen der Mauern steckt, im Knarren der Käfigtüren zu erahnen ist.

Ich habe diese Grausamkeit gekannt, aber hier will ich meine Schilderung der Ereignisse nicht beginnen; ich möchte bei den Körpern bleiben, den warmen, den Eingeweiden, die aus den weichen Bäuchen ragen und der Mattheit der Knopfaugen, mich anblickend wie um mich zu erinnern, was ich getan - was ich tun musste -

Diese Tiere, die jetzt wehleidig und verfilzt von der Schnur hängen, haben nichts mehr gemein mit dem Aussehen, das man ihnen gängigerweise zuschreibt: Dem unschuldigen, plüschigen, anschmiegsamen. Ich aber kann bezeugen, dass sie alles andere als harmlos sind.

Sie, mit ihren schnurrhaarwackelnden Schnauzen, haben meine Luft verbraucht (sie ist jetzt abgestanden und das Fenster beschlagen), sie auch der Pflanze in der Ecke weggeatmet, die jetzt traurig ihre Blätter nach letzten, von draußen hereinsickernden Sonnenresten streckt, und auch der Kerze auf dem Podest in der Ecke, deren kurzer Docht kläglich in seinem Wachsmeer glimmt.“

Die Rede des Tieres ist undeutlich geworden, die Buchstaben irgendwie verdreht; ist es mein Gehör, das streikt oder sind es die Worte; ist das Tier betrunken, verzweifelt in seiner Gefangenschaft; ich möchte mir nicht anmaßen, seine nächsten Sätze entwirren zu können, also lasse ich hier in meinen Aufzeichnungen eine Leerstelle. _____

Nun wird es wieder lauter und ich spüre die Wärme, die Aufregung, die von seinem großen Körper ausgeht; es überragt mich um ein paar Zentimeter; ich weiß es, weil seine Hörner zu beiden Seiten über meinen Kopf reichen; sie sind nach hinten gebogen und schmiegen sich um den Stamm; dessen Dicke zwingt es, den Kopf leicht gesenkt zu halten; vielleicht stammt daher seine Unruhe; es ist gefangen, obwohl sein Streben doch etwas anderem galt, der

„Freiheit. Ich wollte nur Freiheit, aber diese Tiere; sie haben mir nicht zugehört; sie haben gesagt, meine Geschichten von Wiesen, von Reigen bunter Blüten und Wolkenteppichen, auf denen wir grasen könnten, sie seien erfunden, und sie haben Karotten gewaltsam in mein Maul geschoben und mich belagert mit ihren flauschigen Leibern,

Und das alles nur, weil ich gesagt habe

Seht nach oben, seht diese Rotorblätter, seht, wie der Ventilator die Luft durchschneidet. Seht diesen Käfig und riecht die Feuchtigkeit dieses Ortes, der alten Mauern, seht das schwache, trübgefilterte Licht. Betrachtet den  Rost an der Falltür, die sich einmal jeden Morgen öffnet und seht die Farbe der Karotten, die nicht orange, sondern verblichen wirken, sobald sie von behandschuhten Händen in unseren Bereich geschoben werden.

Seht ihr nicht, dass die Luft hier stinkt; dass eure Köttel alles verkleben, dass selbst die Farben, Geräusche aufgesogen werden hier, wo ihr wachst und immer aufeinanderspringt; ob auf Partner oder den Pantoffel jener Frau, die euch gefangen hält, es ist euch gleich -„

Die Stimme des Tieres rückt in weite Ferne und ich versuche zu verstehen, was es mir sagt, von Gängegraben spricht es und vom Ausweiten der Möglichkeiten, vom Irrtum, dem die Tiere erlegen seien und wegen dessen sie nun an der Leine hingen, ihr Blut in gleichmäßigem Takt in ein quadratisches Becken tropfend; die Zeugen dieser Straftat habe man nicht befragt, da sich sowohl Kerze als auch Pflanze der Befragung verweigert und an ihren angestammten Plätzen verwurzelt geblieben seien; in die Akte habe man aufgenommen, dass es sich um Totschlag handele, beim Motiv um Wut über eine Verkennung, denn der Täter sei, anders als die Opfer kein

Kaninchen.

21. Juni 2016 / Frühjahrskurs 2016
von Maria Odoeveskaya

Weil eine Sprache mir erst wirklich gehört, wenn ich ihre Sätze so verbiegen kann, dass aus den Leerstellen in ihnen Tunnellabyrinthe entstehen.

Weil ich das Gefühl kenne, wenn einem keine Sprache wirklich gehört, weil Russisch außerhalb der Migrantenunterkunft nichts galt und ich auf Deutsch nicht einmal einen ganzen Satz bilden konnte, geschweige denn ein Leerstellenlabyrinth aus Sätzen.

Weil ich in den kleinsten Rissen irgendeiner fruchtlosen Internetdiskussion meine stumm machende Ehrfurcht verlor und mich traute zu denken: dieser Welt fehlt etwas, wenn ich es nicht sage.

Weil man sich diese Frage, diese unerhörte Frage, Ist es wirklich wert, gesagt zu werden, immer wieder stellen muss, und weil die noch unerhörtere Antwort, Ja, niemals selbstverständlich ist.

Weil dieser Welt etwas fehlt. Wenn ich es nicht sage. Ist das nicht ein erregender, schwindelerregender, wahnsinniger, wahnsinnig machender Gedanke.

Weil dieser Welt etwas fehlt, weil mir so viel fehlen würde, wenn es "4.48 Psychosis", "Woyzeck", "Last Exit To Brooklyn" und "Die Einsamkeit der Primzahlen" nicht gäbe, weil man sich nie weniger einsam fühlt als in dem Moment, wenn ein Satz in einem Buch endlich die Stille zerbeißt, weil es Menschen gibt, die einen Text von mir gehört und mir gedankt haben, weil ihrer Welt bis dahin etwas gefehlt hat.

Wenn ich es nicht sage. Ist es wirklich wert, gesagt zu werden. Ich habe die Stille dieser Frage zu einem Diamant gepresst und behalte ihn im Mund, bis ich ihn endlich zerbeißen kann.

Weil dieser Diamant mir oft in der Kehle stecken bleibt und mir dann die Luft ausgeht, bevor ich etwas sagen kann, weil ich nicht verstehe, wie Menschen miteinander sprechen können, ohne dass ihnen die Luft ausgeht, wie Menschen miteinander sprechen können, ohne etwas zu sagen, und wie etwas sagen, wenn die Antwort jederzeit "Hä?" sein kann oder "Oh.", und wie überhaupt sprechen, ohne dass eine Unendlichkeit uns voreinander schützt.

Weil Sprachlosigkeit ein Diamant sein muss, wenn Reden Silber ist und Schweigen Gold, und ich selten eine so große Angst vor dem Sterben hatte wie bei dem Gedanken daran, wie dieser Diamant mir von innen die Kehle zerschneidet.

Weil ich beim Schreiben keinen Akzent habe. Weil ich beim Schreiben nicht stottere.

Weil ich den Menschen nicht mag, der ich bin, wenn ich nicht schreibe, und mir oft nicht sicher bin, ob es ihn überhaupt gibt. Weil ich mir nie so sicher bin, dass es mich gibt, wie beim Schreiben, und es dann in Ordnung ist.

Weil ich der Un-Fassbarkeit der Welt im Schreiben eine Nadel in den Schmetterlingsleib stoßen kann, weil es keinen größeren Größenwahn gibt als den, an die Fassbarkeit der Welt zu glauben, und ich glaube nicht daran und behaupte sie trotzdem. Weil es nichts Wichtigeres gibt als dieses trotzdem.

8. Juni 2016 / Frühjahrskurs 2016
von Linda Schyma

Warum schreibe ich? II

Das ist Wermuth. Wermuth ist Chefobervogel in meinem Kopf; Sie krabbelt gerne auf der Stange in der Ecke herum und ist mit Stolz und Würde gekrönt. Nie vergisst sie, das zu betonen und knabbert an der gelben Kette um ihren Hals, an der eine Muschelschale mit einem kreisförmigen, sauber gestanzten Loch hängt, aus dem man das Rauschen der Unterwasserhöhle von Nagua hören kann, wo der Jaguar seit Jahrhunderten seinen dicht bepunkteten Kopf gegen Stalaktiten stemmt, immer und immer wieder; bis das Tropfen der Stalagmiten auch seinen Schädel aushöhlt und ihn fortschwemmt, dahin, wo die kleine Schwester Wermuths an einem Wurm herumreißt, der nicht die Kraft aufzubringen weiß, seinen halbierten Körper aus der Gefahrenzone zu ziehen, robbend die gummiweichen Glieder streckend, sich krümmend wie Wermuths Kontaktlinsen, die der praxisleitende Veterinär ihr mit höchster Präzision ins rot gefiederte Gesicht gesetzt hat, nicht, ohne auf seinem rot glühenden Gesicht einen Domino-Effekt auszulösen, dessen fallende Falten Wermuth zu verstören wussten.

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8. Juni 2016 / Frühjahrskurs 2016
von Daniel Trommer

Ich schreibe, weil mein Leben langweilig ist.
Ich habe in keinem Krieg gekämpft, keinen 8000der bestiegen, keine Frau betrogen und kein Wildschwein erlegt und über dem Feuer gebraten. Genau in dieser Reihenfolge. Alles nicht gemacht. Langweilig! Wobei, was nicht ist, kann ja noch werden. Und man das ja alles noch recht normal finden kann. Also, dass ich die Sachen noch nicht gemacht habe. Aber auch sonst, ist das mit meinem Leben einfach total wenig, es ist lahm und lasch. Meine Eltern zum Beispiel: Haben sich nie getrennt. Ich habe auch keine nennenswerten Krankheiten, Süchte oder andere Probleme. Ich bin nie irgendwo durchgefallen, nie zu spät gekommen, nie angeeckt oder aufgefallen. Ich bin ein Chamäleon. Ein verdammt langweiliges Chamäleon noch dazu. Ich passe mich nicht an, um damit schön, zack, schlurf, mhjamm jamm, ein leckeres Insekt zu verspeisen, nein, im Gegenteil, ich verstecke mich vor dem Insekt noch und versuche, es nicht in seinem Insektsein zu stören. „Oh, bitte, verehrtes Insekt, bin ich ihnen im Weg gesessen, weil ich so grün auf grün bin? Dabei wollte ich Sie doch nur nicht erschrecken, ach wie peinlich. Hier, hier, warten Sie, ich mahe Ihnen Platz. Jaja, Ihnen auch noch einen schönen Tag.“ Und so weiter. Ich habe noch nie jemanden richtig verletzt. Hatte meinen ersten Sex mit 29. Muss ja alles passen. Auf der Arbeit erfülle ich alle Erwartungen. Die Höhepunkte meines Lebens: Mal ins Kino gehen. Bis 1 Uhr aufbleiben. Bücher lesen. Mit den Eltern in Urlaub fahren. Uiii, toolll! Das fetzt ja… Könnte ich mich wenigstens in die Kunst fliehen. Die Bühne rocken als Curt Cobain des 21. Jahrhunderts. Doch das Einzige was von meinen 10 Jahren Klavierunterricht übrig geblieben ist: Alle meine Entchen. Nach 15 Minuten üben. Und davor noch zehn Minuten googeln, wie die Noten nochmal zu lesen sind.
Andere Optionen: Rembrandt oder Clooney … nenene, alles nix.

Also, nochmal im Schnelldurchlauf: In meinem Leben ist nichts passiert. Ich bin ein Glückskind der Nach-Nach-Kriegsgeneration, dessen einzige Sorgen sind, wie er sein schlechtes Gewissen betäubt und sich dabei noch selbst verwirklicht. Keine Wunden, keine Herausforderungen. Nur Sonnenblumen und Schmetterlinge. Ich bin Durchschnitt. Will das aber nicht wahrhaben. Will sichtbar sein. Will der Langeweile entfliehen. Und weil ich keine Spiegelreflexkamera habe, schreibe ich halt. Also doch das mit der Kunst. Mehr bleibt mir nicht übrig. Und die Selbstverwirklichung ist auch schonmal abegedeckt. Toll!

Doch schreib ich eigentlich für mich, um das ganze Zeug in mir loszuwerden, mich von der gähnenden Leere und dem schlechten Gewissen abzulenken und um stattdessen auf ein paar schwarze Strichchen starren zu können, die das große Weiß durchbrechen? Oder ist das mir eigentlich kack-egal psychologisierender Quatsch und ich will einfach nur gesehen werden, da sein, den Applaus für das Gestammel einsammeln?
Die alte Leier vom Schreibproblem des Schreibers. Um seiner selbst oder der anderen Willen? Bullshit. Beides. Immer beides. Und gerade noch hatte ich nach ‚Bullshit‘ direkt ‚Immer beides‘ stehen. Dann hab ich ‚immer beides‘ gelöscht. Und ‚Beides. Immer beides‘ hingetippt. Klingt dann nach mehr Bedeutung. Und „solche“ Strichchen sahen mir zu dominant aus. Darum hab ich ‚die‘ genommen. Unscheinbarer. und jetzt schreib ich einfach alles klein. damit der leser denkt oha wie fancy und lass auch gleich noch die Strichchen weg weil ich jetzt so alternativ vor mich hintipp und irgendeiner findet das dann gut und dann schreibt er mir eine nachricht dass er ganz toll findet was ich so schreibe und so authentisch und dann schickt er das an einen verlag und bald hab
ich mehr leser als tolkien.

Aber jetzt so generell nochmal: Ich schreibe, um zu fliehen. Wegrennen, vor diesem lahmen, glatten Ding, das mein Leben ist. Und dann, (jetzt mal bisschen Licht, bisschen Farbe hier, ist ja nicht auszuhalten mit dem Deprikram) und dann will ich mit einzelnen Sätzen ganze Welten aufreißen, mit Texten Welten erschaffen und einreißen, mir entfliehen und mich einholen, meine Figuren tun lassen, was ich mich selbst nicht getraue.
Und das ist dann schön. Das ist dann Freiheit.

Hab mal ne Geschichte gelesen. Da geht’s um Stine. So eine Figur will ich auch mal erfinden. Stine hat immer nur in den Bergen gelebt und sie liebt das dort und vermisst die Zivilisation nicht. Stine ist da eigentlich zufrieden und es ist total schön zu lesen, wie sie da lebt und das mag. Und dann muss sie doch ins Dorf und da macht ihr ein Typ ein Kompliment und sie geht darauf voll ab und bespringt den Kerl und die haben ne heiße Affäre und er verfällt ihr total, weil sie so ungestüm, wild, anders ist. Aber er ist eigentlich verlobt mit einer, die ihn liebt aber halt nicht so der Abenteuermensch ist. Und er will dann wieder weg von ihr. Und wie sie dann abgeht, alles kaputt haut, sich doch in die in die große Welt stürzt, blind und krank vor Geilheit und Liebe und wie sie kämpft, um ihn zu behalten und wie sie sich verändert und das nicht mal merkt und irgendwie auch sich selbst verrät und verrennt, aber halt fühlt, viel, viel fühlt, viel erlebt, viel krasses und schlimmes und verzweifelnd machendes, überhaupt halt viel, intensiv, viel.

Stine kann ich nicht sein, aber ich kann Stine schreiben. Und das will ich.
Im Schreiben kann ich nämlich alles sein.
Beim Schreiben kann ich ich sein, aber auch jemand ganz anderes und trotzdem so tun, als wäre das ich, über den ich da schreibe. Oder aber ich bin ich, tue aber so, als wäre ich jemand ganz anderes. Oder aber das Ich gibt’s gar nicht und ist eh unwichtig und alles ist nur Gerüst, Fassade und Theater oder aber Worte erschaffen mich und ich kann im Schreiben immer wieder neu erfinden, wer ich ist oder aber dieser Satz hört nie auf oder doch und alles geht,
weil das ist erfinden
und das ist schreiben
und wer soll mich aufhalten!
Gut, außer mein eigener, innerer Zensor. Außer meine Angst, nicht geliebt zu werden. Das Zittern, wenn dieser Text hier veröffentlicht wird. Einer namenlosen Meute vorgeworfen, die den Daumen senken oder heben kann. Oder schweigt. Das Zittern, das bleibt, wenn das großspurige Gelaber und das euphorische Gefühl, das sich gerade beim Schreiben einstellt, verflogen sind.
Klar, im schlechtesten Fall schäme ich mich, wenn ich in ein paar Wochen wieder auf das Ding hier draufgucke. Im besten Fall aber bin ich überrascht, ja stolz, dass ich tatsächlich mal solche Worte gefunden habe, an die ich mich jetzt schon gar nicht mehr erinnern kann und dann ist es, als hätte das alles jemand anderes geschrieben, aber es war ja eben ich und der Text steht da und hätte ich ihn nicht geschrieben, dann gäbe es den jetzt gar nicht.
Und das ist doch verrückt: Ich bin ein Schöpfer.
Es gibt Sätze, Gedanken, Gestalten und Geschichten, nur wegen mir.
Und allein dafür lohnt es sich doch schon, dieses Schreiben
(Happyend).