Springe zum Inhalt

»Zwischen zwei Welten« von Lara Horvath

Sie stehen beide da. Sie haben mich bemerkt.
Sie wissen, sie kennen mich. Aber sie wissen nicht, von wo, von wann und beide kommen nicht darauf, wer ich bin. Kennen sie mich von früher? Aus einem anderen Leben? Bin ich in ihren Träumen vorgekommen?
 
Ich sitze auf einer Parkbank, es ist Sommer. Das kleine Mädchen starrt mich aus großen, runden Augen an. Sie steht neben der Bank, auf der ihre Mutter sitzt. Sie lässt die anderen Kinder spielen, es stört sie plötzlich nicht mehr, ob sie etwas verpasst. Der Spielplatz, die Schokolade, die ihre Mutter ihr hinhält, sind nun nicht mehr wichtig.
Entscheidend bin nur ich.
 
Wer bin ich? Wieso lächle ich sie so an? Wieso hört sie auf einmal ein Lachen in ihrem Kopf, von dem sie weiß, dass es meins ist? Dabei hat sie mich noch nie lachen gehört. Dabei hat sie noch nie mit mir gesprochen. Mich noch nie gesehen.
Das Mädchen streicht sich eine helle Strähne aus dem Gesicht, die Haut an ihrem Unterarm ist noch nicht narbig. Sie nimmt die Schokolade, stopft sie sich in ihren Mund, ohne mich aus den Augen zu lassen und wischt sich die kleinen Hände an ihrem Sommerkleid ab.

Wir werden die zwei Neuen in der Klasse sein. Ich werde ihr helfen, sich das erste Mal die Haare zu färben, die jetzt noch in geflochtenen Zöpfen von ihrem Kinderkopf hängen. Wir werden etliche Sportstunden auf der Schultoilette verbringen, die kahlen Wände mit Mustern verzieren. Wir werden uns die Herzen brechen lassen. Sie wird sich die großen, blauen Augen ausweinen, mit denen sie mich jetzt anstarrt und ich werde sie trösten. Meine Eltern werden sich scheiden lassen, ihre Oma wird sterben, wir werden zusammen trauern, zusammen feiern, zusammen alles durchstehen.
Das kleine Mädchen blinzelt ein paar Male, erwidert unwissend mein Lächeln und rennt wieder zu den anderen Kindern.
 
Ich stehe an einer befahrenen Straße, es regnet. Der Blick des Mannes streift mich nur, fixiert dann die rote Ampel über mir. Doch das Runzeln seiner Stirn und die konzentriert zusammengekniffenen Augen verraten, dass es mehr als nur ein kurzer Blick war, dass ich mehr als nur eine Unbekannte bin.
 
Wer war ich? Wieso pocht sein Herz auf einmal? Wieso wird ihm warm, mitten im November? Wieso verbindet er solche Gefühle mit mir? Mit einer Fremden auf der anderen Straßenseite. Dabei gefällt ihm nichts an Menschen wie mir. Nicht mehr.
So viel hat sich geändert. Mein Anblick macht ihm das klar. Er fährt sich über den grauen, gepflegten Bart. Dabei hat er Bärte immer verachtet. Genau wie Anzüge und Aktentaschen. Was hat er mit den Band-Logo T-Shirts gemacht?
Von wo kannte er mich? War ich eine Kollegin? Nein. Jemand aus dem Fernseher? Nein. War einer seiner Kumpels mal mit mir ausgegangen? War ich für kurze Zeit irgendwo seine Nachbarin gewesen? Nein.
Nein, nein, nein.
Hat er mich in einem früheren Leben mal geliebt?
 
Als er sich noch nicht mit Leuten herumgeschlagen hat, die ständig von Arbeit und Autos sprachen. Sondern mit Menschen wie mir, dem fremden Mädchen auf der anderen Straßenseite. Menschen, die nicht auf das Wochenende warten, sondern in einer Woche voller Wochenenden leben. Wir haben Winternachmittage im Kinosaal verbracht und Sommerabende im Schwimmbad. Wir sind nächtelang wachgeblieben, um hitzige Diskussionen zu führen. Er hat billiges Bier getrunken, das ihm so viel besser schmeckte als teurer Wein. Als er noch gelächelt hat, jedes Mal, wenn er aufwachte und es nach frischen Brötchen und Rührei roch. Sein Magen knurrt. Er hat seit langem nichts Richtiges mehr gefrühstückt.
 
Die Ampel wird grün, wir gehen los. Als wir auf gleicher Höhe sind, blickt er mich ein zweites Mal an. Es ist der Bruchteil einer Sekunde, ehe wir nebeneinander vorbeigegangen sind, doch ich sehe es in seinem Blick.
Er erkennt mich.
 
Zwei Menschen. Zwei Orte. Zwei Zeiten.
Und ich dazwischen.

Schreibe einen Kommentar