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»Von bleibenden Schäden« von Flora Kühn

An diesem Abend, Mitte Juli, da war die Sonne gerade am Untergehen, da räumst du das Geschirr vom Esstisch und holst noch eine Flasche Wasser, bevor du dich wieder setzt, wo du immer sitzt. Alle sitzen wie immer, alles ist wie immer, die Küchenlampe taucht euch in gelbes Licht und der Kühlschrank
brummt alle paar Minuten leise. Dann klingt das Gespräch aus und kurz danach fällt da ein Satz, mit langem Seufzer und ernster Pause davor, und du kannst ihn dennoch nicht ernstnehmen, so aufgebraucht ist er, ein Gemeinplatz aus jedem Melodrama: »Wir müssen euch etwas erzählen.«
Es klingt lächerlich, es passt nicht in die Szene, in die Stimmung von gefüllten Mägen und Familiengesprächen. Du und dein Bruder, ihr macht noch einen alten Witz darüber, aus Zeiten von Hochbetten und Einschlaf-CDs. Er läuft ins Leere, nur ihr beide kichert und erntet ernste Blicke, die
Heiterkeit verpufft, und eine wabernde Stille wischt euch das Grinsen von den Lippen.
Du runzelst die Stirn. »Was soll man in einem solchen Moment denken?«, denkst du. Diese Eltern-Kind-Gespräche, davon gibt es bei euch nicht viele, du kannst dir nichts vorstellen, deine Mutter ist doch schon zu alt, um noch mal schwanger zu werden, ihr habt das Haus doch gerade erst abbezahlt, wäre jemand nahes gestorben, das hättet ihr doch eher mitbekommen. Du überlegst, was du angestellt haben könntest, vielleicht auch dein Bruder, was es Schlimmes gibt, was sie herausgefunden haben könnten, dir fällt nichts ein, wegen ein bisschen Gras würden sie nicht so reagieren.

Angespannt pulst du an deiner Nagelhaut herum und beobachtest, wie sich der Mund deiner Mutter öffnet und schließt, es muss wehtun, denkst du, denn sie guckt euch nicht an, auch nicht euren Vater, nur die geschliffenen Tischkante. Du hast keine Zeit, dir auszumalen, was das bedeuten könnte,
denn dann spricht sie es aus, legt Worte von getrennten Wegen und versiegten Gefühlen in die schweigende Luft und es ist, als hätte dir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.

Sie formen einen Alptraum, von dem du mit zehn weinend aufgewacht bist, mit eurem alten Kater am Fußende. Jetzt vermisst du ihn, jetzt kannst du nicht die Augen öffnen und in
eine warme Daunendecke gehüllt sein, nur schließen, dann tanzen sie vor deinen Lidern, diese Worte.
Worte, die man liest, überhört, erzählt bekommt, von dramatisch flimmernden Bildschirmen, aus Kassettenrekordern und verdrehten Schilderungen, aus nikotinvernebelten Gesprächen vor fremden Gartentüren. Die nicht zu dir gehören, die nur jemand anderes Geschichte bilden. Die verschwinden
können, wenn man es will, wenn man sich wegdreht, weggeht, zu macht. Aber diese verschwinden nicht. Sie fallen und prallen auf, auf die Tischplatte aus dunkelroten Linoleum, gegen die hölzernen
Anrichte, auf die Kacheln am Boden, sie sind Würmer in diesem warmen, vertrauten Raum, hässliche, fette Würmer, Parasiten, die nähren von dem Klingen von Töpfen und dem Rauschen von Leitungswasser, dem Zündgeräusch des Gasherdes, dem Gefühl gegeneinander zu stoßen, denn die Küche ist am kleinsten und am wärmsten.

Sie vermehren sich, die Würmer vermehren sich und kriechen in dich hinein, sie formen Klumpen in dir, in deinem Magen, in deinem Hals, auf deiner Zunge, windende, unverdauliche Klumpen, schwer und sperrig und bitter. Sie drücken gegen deine Augen bis sie tränen, gegen deinen Schädel bis er pocht,
sie schwimmen zusammen zu einem und er rollt nach vorne, über deine Lippen nach draußen, wird zu einem einzelnen, armseligen Fiepen.

Deine Eltern gucken euch an, die Brauen deine Mutter ziehen sich zusammen und runzeln ihre Stirn, als ein Keuchen hervor quillt, wo du Ärmel in deine Augenhöhlen, gegen deine Wangen
presst. Es macht dich wütend. Als hättest du irgendetwas kommen sehen
sollen, Zeichen lesen sollen in der Abwesenheit von Streit und Geschrei und Gegifte, zwischen Küssen und Spieleabenden und den Laken eines großen Doppelbetts nach Fehlern im Alltag hättest gucken sollen. Dein Bruder sitzt da, mit weißer Bluse und glattem Haar und sieht aus wie eine versteinerte Puppe, deine Mutter dreht ihr leeres Weinglas zwischen den Fingern und redet weiter, langsam
und leise und betreten, mit dem Versuch zu erklären, zu mildern und dein Vater fängt auch an zu weinen. Dir ist schlecht und du willst dich übergeben, ins Bett gehen und die alten Kuscheltiere rausholen, aus der Zeit, als das alles nur in Träumen passierte, aber als du gehen willst, sollst du dich wieder hinsetzen und es werden Fragen gestellt, die du nie hören wolltest, Fragen, wer wann wegziehe, wie man nun Urlaub mache und auf Festen auftrete. Und du sollst jetzt Gedanken und Meinungen haben, aber was gab es denn da, was du sagen konntest, ich will nicht, was soll das, warum, ich will das nicht?

Du versuchst zuzuhören und es tut im Kopf weh, es wirft einen Schatten über die letzten Monate, du vertraust den schönen Erinnerungen nicht mehr, denn wie lange war das schon? Abende fallen dir ein, an denen ihr nicht zusammen gegessen habt, an denen deine Mutter bei einer Freundin war oder dein
Vater verreist und jetzt wirkt alles vergiftet, jetzt bildest du dir sogar ein, dass sie sich von dir distanziert haben. Die Menschen, die da sitzen und voneinander in der dritten Person reden, die kennst du nicht mehr, die willst du nicht mehr umarmen, die verletzen dich und machen es mit jedem Wort
schlimmer.
Du presst deinen Kopf gegen den Tisch und fragst dich, ob man
über so etwas je hinwegkommen kann.

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