Springe zum Inhalt

»Funkstille« von Kathrine Rüdiger

Leere. Mein Kopf, in dem sonst immer so viele Gedanken zugleich herumschwirren, ist vollkommen leer. Ich kann diesen Absatz zwölfmal lesen und ich weiß immer noch nicht, was er mir sagen möchte. Ja, ich verstehe, worum es im Groben geht, aber jetzt soll ich auch noch interpretieren. Ich blicke zu meiner Freundin. Nur ganz kurz, damit es nicht als »Täuschungsversuch« gesehen wird. Sie hat schon zwölf Seiten geschrieben. Zwölf Seiten! Und dabei hat sie nicht mal die Hälfte der Seite Rand gelassen, wie uns es unser Lehrer jedesmal sagt. Ich habe anderthalb Seiten. Und Hälfte Rand. Und nur die Inhaltszusammenfassung. Was will mir Goethe sagen? Mein Kopf ist absolut leer. Absolute Leere, absolute Stille, absolut nichts ist da drin. Vielleicht hätte ich doch die Transit Aufgabe nehmen sollen. Da komme ich wenigstens mit der Sprache besser klar.

Ich blicke mich im Raum um. Ich fange einen verlorenen Blick auf der anderen Seite des Raumes ein, wir halten Augenkontakt für einen Moment, lassen ihn wieder fallen. Sonst ist das immer der Blick meiner Freundin gewesen. Sonst haben wir uns immer in Klausuren verzweifelt angesehen. Ich vergleiche meine Uhr mit der an der Wand. Meine geht nach. Oder die an der Wand vor. Draußen auf dem Schulhof steht ein Stuhl. Ich frage mich, wie der dahin gekommen ist.  Unser Lehrer sitzt am Pult und korrigiert eine Klausur. Der Großteil des Kurses schreibt ihre Klausuren. Nur ich nicht. Zwei Stunden noch. Was habe ich die ganze Zeit nur gemacht?

Zwei Stunden später gebe ich ab. Ich bin doch noch zu Transit gewechselt. Drei Stunden habe ich verschwendet. Ich weiß auch nicht, wie ich doch noch sieben Seiten geschrieben habe. Mit einem Schlag war mein Kopf voller Ideen. Viel zu viele, um sie alle zu schreiben. Ich habe das beste aus diesen Gedanken gemacht.

»Was hast du geschrieben?«

»Oh man, das ist richtig gut!« 

»Da wäre ich nie im Leben drauf gekommen!«

»Ich habe nur geschrieben, dass …« 

»Wie lief’s bei dir?«

»Frag nicht« 

»Ich war schon kurz nach der Hälfte fertig, hab bestimmt was vergessen«

»Das war voll einfach!«

»Ne, überhaupt nicht.«

»Lässt er das durchgehen?«

»Werden wir dann sehen«

»Wenn du gut begründet hast …«

»Ist Gretchen nun eigentlich gestorben?«

»Mach dir nicht so viele Gedanken«

Draußen auf dem Schulhof atme ich tief durch. Endlich nicht mehr dieses Stimmengewirr ertragen müssen. Einfach in Ruhe nach Hause fahren. Meine Freundin ruft meinen Namen. Ich reagiere nicht. Ich will hier einfach nur weg. Nicht mehr an diese Klausur denken. An nichts denken. 

»Hey, du hast dein Handy vergessen”«, sagt sie freundlich. Ich lächle und nehme ihr mein Handy ab.

»Danke.« Ich frage mich, warum sie das macht. Wochenlang schien ich ihr nicht wichtig gewesen zu sein und jetzt bringt sie mir mein Handy mit. Ich richte meinen Blick wieder gen Boden und gehe schweigend weiter.

»Lief die Klausur nicht so gut?«, fragt sie mich. 

Ich schüttel den Kopf. »Anders als bei dir anscheinend.«

»Was meinst du?« Sie zieht die Augenbrauen zusammen.

»Du hast so viel geschrieben. Wie viel war es? 16 Seiten? 20?«

»17. Na und? Heißt noch lange nicht, dass es gut ist!«

»Doch. Du bist gut. Wie sonst hättest du die letzten Wochen Tag und Nacht bei deinem Freund sein können, während ich nur für alle möglichen Klausuren gelernt habe. Und das wusstest du. Du hast nicht ein einziges Mal gefragt, ob du mir helfen kannst. Dein Freund hat dich täglich zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt. Du hattest überhaupt keine Zeit für mich mehr. Du hast nur noch ihn im Kopf!«

Endlich ist es raus. Das, was mir seit Tagen im Kopf rumschwirrte. Es fühlt sich toll an, toll und zugleich schrecklich.

Sie sieht mich für einen Moment an, schüttelt dann den Kopf. »Ja, ich war bei meinem Freund. Aber ich habe auch nur die ganze Zeit gelernt. Ich konnte dir gar nicht helfen, ich habe in letzter Zeit selber enorme Probleme, dem Ganzen zu folgen!«

So war das also. Ganz simpel. Warum kann ich nicht einfach mal mit ihr geredet haben? Ich hasse mich. Einfach mal nachfragen. Ein, zwei Sätze - mehr hätte es nicht gebraucht, um dieses Missverständnis schon früher aus der Welt zu räumen. 

»Hätten wir uns nicht gegenseitig helfen können?«

»Ja, das wäre wohl das beste gewesen.« Sie seufzt. Wir sehen uns an. Ich lächle, sie lächelt, wir verstehen. Sie macht einen Schritt auf mich zu und umarmt mich fest.

Und durch diese einfache Geste fühle ich mich nun viel besser. Viel, viel besser.

Schreibe einen Kommentar