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Herbstkurs 2019 © Sophie Daum

Unter der Leitung von Tamara Bach und Nils Mohl haben Jugendliche von Ende Oktober 2019 bis Mitte Januar 2020 in der Prosawerkstatt des Jungen Literaturhauses – dem Schreiblabor – viel über literarisches Schreiben, das Autor*innendasein und den Literaturbetrieb sowie im Detail über Personal, Plot und Perspektive gelernt, Helden, Antihelden und Superhelden kreiert und in diverse Konflikte verstrickt. Sie haben über richtig gute Textanfänge diskutiert, die eigene Stimme herausgearbeitet, sich vom Textplan in die Chaostheorie gewagt, Adjektive entrümpelt und Dialoge geschliffen, und dabei neue Erzählungen über die Welt entworfen.

Am 4. Februar 2020 haben die Schreiblaborant*innen ihre Texte im Eddy-Lübbert-Saal des Literaturhauses der Weltöffentlichkeit präsentiert. Und nun sind die Texte von Carlotta Braasch, Janne Brüggemann, Carla Fabricius, Emma Hertzog, Tilman Immisch, Melina Kehrhahn, Sorour Keramatboroujeni, Clara Paulick, Emma Schleede, Shady-Lane Struck, Allegra Tiedemann und Paul Ziese auch hier auf dem Blog zu lesen.

Das Schreiblabor im Herbst 2019 fand mit freundlicher Unterstützung der Kunst- und Literaturstiftung Petra und K.-H. Zillmer, Treuhandstiftung unter dem Dach der Hamburgischen Kulturstiftung, statt. 

Freudig schließe ich mein Fahrrad an. Die Sonne strahlt schon stark und um mich herum hasten Leute zum Eingang unserer Schule. Einige unterhalten sich. Andere laufen schnell auf die schwere Eingangstür aus Holz zu. Ein paar haben sich ihre Kapuze ins Gesicht gezogen und gehen langsam auf den Schuleingang zu. Ihr Blick nach unten oder starr auf die Tür gerichtet. Ich frage mich, zu welcher Gruppe ich wohl gehöre, bevor ich mich ebenfalls in Richtung Eingang drehe und beginne langsam zu gehen. Die Fahrradständer stehen fast direkt neben dem Schuleingang, aber der Weg kommt mir länger vor. Während ich gehe, schaue nach oben. Einige Fenster sind offen. Doch dann versperrt mir das kleine Dach über dem Eingang den Blick und ich gucke wieder geradeaus. Ein Schüler, ich glaube aus der 9., hält mir die Tür auf. Ich bedanke mich. Die Luft enthält jetzt schon weniger Sauerstoff. Als ich sie einatme, habe ich das Gefühl wieder komplett im Schulalltag zu sein.

...weiterlesen "»Manchmal ist das Leben wie eine Schnecke« von Janne Brüggemann"

Mein Vater kann das Meer nicht ausstehen.
Er kann noch einige andere Sachen nicht leiden, aber das Meer fand er am schlimmsten, am allerschlimmsten. Obwohl es doch so schön ist. Ich sitze hier, vor meinem Fenster und genieße die Aussicht.
Mein Vater ist zu Besuch und starrt auf die Uhr an der Wand. Doch ich habe das Gefühl, er schaut durch die Uhr hindurch, die Wand an, kalt und fokussiert.
»Wollen wir spazieren gehen?«, frage ich leise.
»Meinetwegen«, erwidert er kühl.
»Wirklich?«, zaghaft hebe ich meine Stimme.
»Ich hab’ doch JA gesagt!«. Diesmal ist er ganz laut.
Er ist nur mies gelaunt, weil ich am Meer wohne, denke ich. Und natürlich, weil er hier seine Zeit mit mir verbringt.
»Okay, willst du vielleicht ein Lakritz zur Beruhigung?« Er verdreht als Antwort nur die Augen. In Ordnung, dann eben nicht.
»Gehen wir spazieren. Wir haben ja eh nichts Besseres zu tun.« Wir ziehen uns unsere Mäntel schweigend an, und ich schließe die Tür hinter mir ab. Der Wind weht uns kalt ins Gesicht, der Himmel sieht ziemlich bedeckt aus, es wird bestimmt bald anfangen zu regnen.
Vater schaut zum Himmel und verzieht sein Gesicht. Seine Mundwinkel sind unten, seine Stirn liegt in Falten und sein Blick ist fest.
»Nun, wohin?«
»Naja, ich dachte wir können am Meer entlanggehen.«
»Aha, meinetwegen.«

...weiterlesen "»Mein Vater kann das Meer nicht ausstehen« von Emma Schleede"

Mein Herz pocht so laut, dass ich Angst habe, jemand könnte es hören und aus einem der vielen Klassenräume kommen. »Okay«, sage ich zu mir selbst, »es ist nur eine neue Schule.« Ich habe mich in den Gängen verlaufen. Alle anderen sind schon in den Räumen links und rechts verschwunden.
»Hey, kann ich helfen?«
Ein Junge, etwa mein Alter. Er sitzt auf einer der Fensterbänke.
»Wie? Was?«, stammle ich.
»Ich fragte, ob ich helfen kann«, erwidert der Junge. »Du wirkst ein wenig verloren.«
»Ach«, winke ich ab. »Ich bin neu hier.« Wieder atme ich tief durch. »Es ist alles gut«, beruhige ich mich selbst. »Es ist nur ein neuer Junge aus der neuen Schule.«
»Wo musst du denn hin?«
»315«, sage ich.
»Und ich bin Mario«, erwidert der Junge und lacht. Dann zeigt er auf eine Tür.
»Das ist Zimmer 315?«, frage ich.
Er nickt und blickt auf seine Armbanduhr. »Mist!«, flucht er. »Ich wollte eigentlich nur aufs Klo gehen, und jetzt sind schon wieder fünf Minuten vergangen. Tut mir leid, ich muss weg. Wir sehen uns bestimmt noch mal, 315.«

...weiterlesen "»Die neue Schule« von Melina Kehrhahn"

Die Frau stieg an der Endhaltstelle aus dem Bus aus und versuchte zwei Tüten in ihrer Tasche zu verstecken. Sie ging langsam durch den leichten Nebel auf die andere Seite der Straße. Mit jedem Schritt schlug ihr Herz schneller. Mit jedem Schritt näherte sie sich den riesigen Containern. Sie wartete am Eingang, über dem ein Schild stand »Deutsches Rotes Kreuz«. Ein Mann mit einer grünen Uniform steckte den Kopf durch das Fenster des kleinen Häuschens neben dem Eingang hinaus und rief: »Karte bitte!« Sie zeigte eine weiße Karte mit dem Bild einer kopfbedeckten Frau und ein paar Zahlen und Buchstaben darunter. Die Karte schaute er sich verdrossen an, dann die Frau. Er gab die Karte zurück. Sie beschleunigte das Tempo ihrer Schritte und ging die Treppen des ersten Containers aus der Reihe hinauf. Sie öffnete eine Tür aus weißem Kunststoff und sah, dass ihre Zimmergenossin »Wahidah« vor dem Fenster stand.
Samah: »Ich habe dir zehn Mal gesagt, du sollst hier nicht rauchen. Ich habe keine Lust auf den Alarm und Ärger mit der Security.«
Wahidah drehte den Kopf um: »Ich habe gar nicht gemerkt, dass du hier zurück bist.«
Samah: »Ich bin erst jetzt angekommen. Guck Mal, was ich gekauft habe. Reis, Eier, Tomaten und Spagetti. Wir kochen heute was Leckeres.«
Sie legte die Tüten aus der Tasche auf den Tisch neben einen zerrissenen Briefumschlag und machte die Tür wieder auf: »Ich gehe kurz zu Sabreen. Ich muss ihre Einkäufe abgeben.«
Wahidah: »Das brauchst du nicht mehr«. Samah: »Was?«
Wahidah: »Sie haben heute die Zimmer durchsucht und alle Herdplatten wieder eingesammelt.«
Samah: »Ach nein. Sabreens Kind kann das Essen von der Kantine nicht vertragen.«

...weiterlesen "»Die Endstation« von Sorour Keramatboroujeni"