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»Die neue Schule« von Melina Kehrhahn

Mein Herz pocht so laut, dass ich Angst habe, jemand könnte es hören und aus einem der vielen Klassenräume kommen. »Okay«, sage ich zu mir selbst, »es ist nur eine neue Schule.« Ich habe mich in den Gängen verlaufen. Alle anderen sind schon in den Räumen links und rechts verschwunden.
»Hey, kann ich helfen?«
Ein Junge, etwa mein Alter. Er sitzt auf einer der Fensterbänke.
»Wie? Was?«, stammle ich.
»Ich fragte, ob ich helfen kann«, erwidert der Junge. »Du wirkst ein wenig verloren.«
»Ach«, winke ich ab. »Ich bin neu hier.« Wieder atme ich tief durch. »Es ist alles gut«, beruhige ich mich selbst. »Es ist nur ein neuer Junge aus der neuen Schule.«
»Wo musst du denn hin?«
»315«, sage ich.
»Und ich bin Mario«, erwidert der Junge und lacht. Dann zeigt er auf eine Tür.
»Das ist Zimmer 315?«, frage ich.
Er nickt und blickt auf seine Armbanduhr. »Mist!«, flucht er. »Ich wollte eigentlich nur aufs Klo gehen, und jetzt sind schon wieder fünf Minuten vergangen. Tut mir leid, ich muss weg. Wir sehen uns bestimmt noch mal, 315.«

Damit verschwindet er. Und ich schleiche mich in das neue Klassenzimmer. Stickige Luft schlägt mir entgegen. Es riecht nach Schweiß, Energydrinks und Parfum. Alle sind über ihre Hefte gebeugt und haben Stifte in der Hand. Eine Lehrerin geht durch die Reihen, bleibt hinter einzelnen Stühlen stehen und erklärt etwas. Von den Tischreihen her hört man das Geräusch von Füllern auf Papier: kratz kratz kratz.
Ich huste kurz.
Frau Bärmann, die Lehrerin, kenne ich schon aus dem Vorgespräch. Sie wird zuerst auf mich aufmerksam. »Guten Morgen«, sagt sie. Auch die anderen Schüler drehen jetzt ihre Gesichter zur Tür. Ich beobachte ihre Reaktionen. Einige lächeln, einige sehen kurz auf und blicken dann wieder in ihre Hefte, einige tuscheln mit ihrem Nachbarn. »Das ist Karina«, stellt mich Frau Bärmann vor. »Sie ist auf unsere Schule gekommen, weil es in ihrer alten Schule einige Probleme gab. Karina, ich bin mir sicher, dass du hier schnell neue Freunde finden wirst.«
Ich blicke wieder durch die Reihen und werde rot. Muss man mich als Lehrerin so vorführen? Die Gesichter der Schüler sind jetzt überwiegend ernst, die Köpfe gesenkt. Nur vereinzelte Schüler beschäftigen sich weiter mit ihren Aufgaben, ohne auf die Lehrerin zu achten. Ich stehe immer noch an der Tür und weiß nicht, wie es weitergeht. Endlich sieht Frau Bärmann mich an. »Komm, du kannst dich in die letzte Reihe neben Lea setzen«, sagt sie.
Sie führt mich zu einem Tisch ganz hinten. Ich stelle meine Schultasche sorgsam an den Tisch und setze mich. Ein stechendes, süßliches Parfum steigt mir in die Nase, als ich meinen Stuhl an den Tisch schiebe. Ich sehe meine neue Sitznachbarin aufmerksam an. Sie nimmt überhaupt keine Notiz von mir, sitzt nur da und schreibt in ihr Heft. Das emsige Kratzen ihres Füllers dringt an mein Ohr. Ich drehe den Kopf wieder weg und wühle in meiner Schultasche herum, um etwas zu tun zu haben. Endlich hebt Lea den Blick und zeigt mir ihr übermäßig geschminktes Gesicht. Dieses Makeup passt gut zu ihrem Parfum, finde ich. »Na?«, fragt sie mit schnippischem Tonfall. Diesen Tonfall kenne ich nur zu gut. »Mobbingopfer oder Problemschülerin?«
Ich werde augenblicklich kreidebleich. Muss sie jetzt auch noch Salz in die Wunde streuen? »Das ist überhaupt nicht witzig!«, sage ich und meine Stimme zittert.
»Ich möchte auch gar nicht witzig sein«, erwidert Lea.
»Lea!«, sagt Frau Bärmann. »Benimm dich bitte! Ich weiß, wie du zu neuen Schülern stehst, aber ein bisschen Mühe könntest du dir wirklich mal geben! So, dann möchte ich jetzt eure Aufsätze hören. Karina, es ist in Ordnung, dass du jetzt noch keinen hast. Höre den anderen einfach zu.«
Während die Schüler die Aufsätze vorlesen, sagt Lea nichts mehr. Als Frau Bärmann auch den letzten Aufsatz gehört hat, klingelt es zur Pause.
Ich beobachte meine neue Klasse, wie sie den Raum verlässt. Erst als der letzte Schüler mit seiner Tasche zur Tür geht, stehe ich langsam auf.
»Na, Mobbingopfer«, höre ich plötzlich Leas Stimme hinter mir. »Trödelst du immer so rum?«
»Ich trödele doch nicht rum«, sage ich und kann nicht verhindern, dass meine Stimme wieder zittert.
Lea schnaubt. »Du verlässt die Klasse als Letzte und möchtest mir weißmachen, dass du nicht trödelst?«
Mein Puls wird schneller, mein Atem ebenfalls. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. »Ist das so wichtig?«, frage ich. »Können wir nicht über etwas anderes reden?«
»Soweit kommt's noch!«, faucht Lea. »Merk dir eins: Ich bestimme, über was geredet wird!« Dann atmet sie tief ein, bevor sie fragt: »Du hast wirklich ein Problem, oder?«
»Lea«, sage ich ruhig. »Hör bitte auf damit.«
Sie kommt ganz nah an mich heran. »Du kannst es mir ruhig sagen«, erwidert sie und sorgt dafür, dass ich stocksteif dastehe, während sie lacht.
In dem Moment spüre ich jemanden hinter mir. Es ist der Junge, dem ich auf dem Weg in die Klasse schon begegnet bin. Das weiß ich, ohne mich umzudrehen. Mein Atem beruhigt sich und mein Kopf wird klarer. Entschlossen gehe ich auf Lea zu. »Okay«, sage ich mit fester Stimme. »Das reicht! Ich lasse mich von dir nicht auslachen!« Ich gehe noch einen Schritt auf sie zu, sodass ich ihr unerträgliches Parfum riechen kann. »Und worüber ich reden möchte, entscheide ich selbst, du kannst daran nichts ändern! Verschwinde jetzt besser, sonst gehe ich zur Schulleitung.«
Zu meinem Erstaunen dreht sich Lea eingeschüchtert um und verschwindet in der Toilette. Mario hinter mir pfeift.
»Du warst super!«, sagt er anerkennend. »Eine solche Abreibung hatte Lea dringend nötig. Ich bin sicher, sie hat ihre Lektion gelernt und wird dich in Ruhe lassen.«
Es läutet.
»Du bist wieder spät dran«, sage ich.
»Du weißt wieder nicht, wohin.«
»Doch, Musikraum«, sage ich.
Er zeigt mit dem Finger in Richtung Treppe.
Ich lächle und marschiere los. »Okay«, sage ich zu mir selbst. »Es ist nur eine neue Schule. Und neu ist vielleicht gar nicht so schlecht … «
»Gehen wir in der nächsten Pause in die Kantine?«, ruft Mario mir noch nach.
Ich antworte nicht, aber ich drehe mich noch mal um. Ich sage: »Ach so, ich bin übrigens Karina.«
Mein Herz pocht so laut, dass ich Angst habe, jemand könnte es hören und aus einem der vielen Klassenräume kommen.

Melina Kehrhahn © Literaturhaus, Fotografin Sophie Daum
Melina Kehrhahn © Literaturhaus, Fotografin Sophie Daum

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