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»Mein Vater kann das Meer nicht ausstehen« von Emma Schleede

Mein Vater kann das Meer nicht ausstehen.
Er kann noch einige andere Sachen nicht leiden, aber das Meer fand er am schlimmsten, am allerschlimmsten. Obwohl es doch so schön ist. Ich sitze hier, vor meinem Fenster und genieße die Aussicht.
Mein Vater ist zu Besuch und starrt auf die Uhr an der Wand. Doch ich habe das Gefühl, er schaut durch die Uhr hindurch, die Wand an, kalt und fokussiert.
»Wollen wir spazieren gehen?«, frage ich leise.
»Meinetwegen«, erwidert er kühl.
»Wirklich?«, zaghaft hebe ich meine Stimme.
»Ich hab’ doch JA gesagt!«. Diesmal ist er ganz laut.
Er ist nur mies gelaunt, weil ich am Meer wohne, denke ich. Und natürlich, weil er hier seine Zeit mit mir verbringt.
»Okay, willst du vielleicht ein Lakritz zur Beruhigung?« Er verdreht als Antwort nur die Augen. In Ordnung, dann eben nicht.
»Gehen wir spazieren. Wir haben ja eh nichts Besseres zu tun.« Wir ziehen uns unsere Mäntel schweigend an, und ich schließe die Tür hinter mir ab. Der Wind weht uns kalt ins Gesicht, der Himmel sieht ziemlich bedeckt aus, es wird bestimmt bald anfangen zu regnen.
Vater schaut zum Himmel und verzieht sein Gesicht. Seine Mundwinkel sind unten, seine Stirn liegt in Falten und sein Blick ist fest.
»Nun, wohin?«
»Naja, ich dachte wir können am Meer entlanggehen.«
»Aha, meinetwegen.«

Wir gehen neben dem Wasser längs, nebeneinander her. Das Meer riecht immer so frisch wie eine Zitrone, aber heute wirkt es sehr unruhig, die Wellen sehen ziemlich groß aus. Sein Gang ist aufrecht, seine Hände vergräbt er in seinen Taschen. Ich schaue ihn an, aber er wendet den Blick von mir ab. Wieso tut er sich das an? Warum besucht er mich, wenn er eh nichts zu sagen hat? Ich will wieder nachhause, ohne ihn. Ohne seine Kälte, seinen einen Pflichtbesuch im Herbst kann er sich sparen.
»Sonst ist eigentlich gutes Wetter.«
»Hm«
»Wie geht es Hilde und ihren Mann?«
»Weiß nicht, sind weggezogen.«
»Was machen die Aktien?«
»Egal, hast eh keine Ahnung.«
Okay, tut mir leid, dass ich keine Business-Lady geworden bin, ich weiß, dass ich eine Enttäuschung bin. Ich schätze, dass ich nicht die Tochter bin, die er sich erwünscht hat. Vermutlich hat der Tod meiner Mutter etwas damit zu tun. Früher haben wir viele Ausflüge unternommen, als wir noch zu dritt waren, aber das ist schon lange her. In seinen Augen hatte ich noch nie den perfekten Freund. Ich flog vom Internat, rauchte und trank … Mit nichts, rein gar nichts, was ich je wollte, war dieser Mann einverstanden. Jetzt lebe ich auch noch am Meer, bin auch noch Lehrerin geworden, anstatt Unternehmerin, anstatt das zu machen, was er will. Doch wieso kam er erneut hierher. Und wieso macht er überhaupt mit mir einen Sparziergang am Meer? Vielleicht sollte ich ihn darauf ansprechen? Vielleicht sollten einmal ordentlich die Fetzen fliegen, sodass er das nächste Mal, nicht erneut die Mühe auf sich nehmen muss, um hier zu erscheinen. Dann habe ich ihn endgültig vergrault.
»Vater?«
Ich schaue mich hektisch um. In meinen Gedanken versunken, habe ich nicht bemerkt, dass er einfach stehen geblieben ist und auf das Meer starrt. Er sieht von Weitem verändert aus. Seine Augen wirken ausdruckslos, er ist nun gekrümmt und hat seinen Kopf gesenkt. Bisher habe ich ihn noch nie so gesehen. Langsam gehe ich auf ihn zu, mit vorsichtigen Schritten, damit er sich nicht erschrickt. Er bemerkt mich nicht einmal, dabei stehe ich dicht neben ihm.
»Vater?«, wispere ich, um ihn nicht ruckartig aus seinen Gedanken zu reißen.
Doch anscheinend habe ich mal wieder alles falsch gemacht, seine Haltung verändert sich, seine Augenbrauen zieht er zusammen wie üblich, er wirkt richtig wütend.
»Was willst du?«
»Ich wollte mit dir ein wenig … «, mein Herz pocht extrem schnell, meine Hände, meine Stimme und auch mein Körper, alles zittert in mir.
»Ein wenig was? Stören, wie immer?«
»Vater, bei mir packst du nicht den Kasernenton aus, verstanden?«
Mein Kopf wird rot, meine Hände zittern stärker.
»Kasernenton? Wo hast du das denn aufgeschnappt?«
»Beruhige dich, wollen wir ein Stück weiter?«
»Ich beruhige mich, wann ich es will!«
»In Ordnung, ich dachte ja nur. Naja, eigentlich wollte ich - «
»Eben, du dachtest, da ist schon der erste Fehler.«
»Okay, entschuldige, ich wollte - «
»Ich, ich, ich! Ich höre von dir immer nur ich.«
Das sitzt.
»Vater - «
Doch er hört mir gar nicht mehr zu, dreht sich um und geht. Nur noch die brausenden Wellen sind zu hören. Vielleicht sollte ich einfach hier stehen bleiben und warten, bis er seine Koffer gepackt hat und gegangen ist. Was will ich? Ganz ehrlich, will ich das auf mir sitzen lassen, dass ich egoistisch bin? Das er mich anschreit und denn abzieht, wie ein beleidigtes Kind, wie er es immer tut, und immer damit durchkommt? Ich gehe ihm hinterher. Mit schnellen Schritten, beginne dann, langsam zu joggen, bis ich ihn erreiche. Ich halte ihn am Ärmel fest, ich ziehe ihn daran, so dass er sich zu mir drehen muss.
»Pass mal auf, jetzt hörst DU mir mal zu, was ich zu sagen habe!«
Mit weit aufgerissenen Augen guckt er mich an. Ich lasse seinen Ärmel los und warte einen kurzen Augenblick, keine weitere Reaktion. Er mustert mich nur. Ich hole tief Luft. Der frische Geruch hat sich in einen unangenehmen Algengeruch verwandelt.
»Du kommst ein einziges Mal im Jahr hierher, da fällt dir nichts Besseres ein, als mich zu beleidigen? Du nennst mich egoistisch, dabei bist du der Egoist. Du lässt mich kaum aussprechen. Ich weiß, du kannst mich nicht leiden, und das Meer hasst du sowieso. Doch wieso, wieso verdammt nochmal bist du denn hier?«
Er schaut zu Boden. Etwas an ihm ist anders, ich kann nicht mal genau sagen, was es ist.
»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll … « Seine Stimme klingt brüchig und fast so, als wär’ er kurz vorm Weinen. Mein Vater.
»Deine … «, er räuspert sich, »deine Mutter. Du siehst ihr mit jedem Tag, der vergeht, ähnlicher, schöner. Es tut weh, ich weiß nicht, wie ich es dir besser erklären soll … «
Er weint. Ich habe meinen Vater noch nie in meinen ganzen Leben weinen sehen. Ich sage nichts mehr, nehme ihn nur noch in den Arm. Das Meer hat sich ein wenig beruhigt und sprüht uns etwas Gischt ins Gesicht.

Emma Schleede © Literaturhaus, Fotografin Sophie Daum
Emma Schleede © Literaturhaus, Fotografin Sophie Daum

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