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»Zu spät« von Paul Eliah Ziese

Du wachst auf, doch du bist noch zu müde. Du drehst dich wieder um und ziehst die Bettdecke enger um dich. Du schließt die Augen. Aber es ist hell. Normalerweise dürfte es um diese Uhrzeit nicht hell sein. Du blickst auf die Uhr, die auf deinem Nachttisch steht. Die Uhr zeigte zehn Minuten vor acht an.
Du hast verschlafen und deine Eltern haben dich nicht geweckt.
Du musst los!
Eilig springst aus dem Bett und fischst ein paar Kleidungstücke aus deinem Schrank. Du hast keine Zeit zu Duschen und ziehst dich in Windeseile an. Dann rennst du in die Küche, reißt den Kühlschrank auf und siehst, dass eine Dose mit Broten darin liegt. Du packst die Dose und stopfst sie in deinen Ranzen. Danach siehst du noch eine Flasche Erdbeermilch. Auch die schnappst du dir und packst sie ein. Schließt die Kühlschranktür und stürmst aus der Küche in den Flur. Du ziehst dir die Schuhe an und wirfst dir eine Jacke über. Schnappst dir noch schnell deinen Schlüssel und steckst ihn in die Jackentasche. Dann öffnest du die Haustür, rennst in den Garten, wo du dein Fahrrad holst.

Du schwingst dich auf dein Fahrrad und fährst los. Als du das Ende der Straße erreicht hast, biegst du rechts ab.
Du siehst den kleinen Jungen aus der Nachbarschaft, der ins Auto des Vaters einsteigt und zum Kindergarten gefahren wird. Du fragst dich, ob du großen Ärger bekommst. Aber nein, es ist das erste Mal, dass du zu spät kommst. Aber ihr habt ihr in der ersten Stunde Mathe und euer Mathelehrer ist besonders streng.
Du erreichst eine Straßenkreuzung, wartest kurz, dass du sie überqueren kannst. Fährst dann in Windeseile weiter. Du rast in eine Biegung und fährst durch die Unterführung und auf der anderen Seite wieder hoch.
Ob du dann wohl nachsitzen musst? Aber nein, es sind schon viele zu spät gekommen, und die mussten nie nachsitzen. Aber bei Herr Schmidt war noch keiner zu spät.
Oben auf der anderen Seite zeigt die Ampel rot, du bremst, die Bremsklötze quietschen. Du solltest mal die Bremsen einstellen. Du trommelst den Rhythmus von einem deiner Lieblingslieder. Vielleicht schickt Herr Schmidt dich dann zum Mittelstufenleiter und deine Eltern bekommen einen Anruf. Wie sollst du ihnen dies bitte schön erklären?
Die Ampel springt auf grün um und du trittst erst in die Pedale, doch dann musst du abbremsen, weil dir ein Autofahrer einfach die Vorfahrt nimmt. Du schlängelst dich durch den Verkehr und weichst im letzten Moment einem Auto aus, das in einem Affenzahn über die Straße jagt.
Als du die Straße überquert hast, biegst du scharf rechts ein, fährst an der Kita vorbei, wo du all den Eltern mit ihren Kindern ausweichen musst. Am Ende der Straße siehst du auch schon deine Schule, doch der Weg bis dahin kommt dir endlos lang vor, als würde die Straße immer länger werden.
Herr Schmidt versteht keinen Spaß. Er ist der unbeliebteste Lehrer auf der Schule, leider ist er der stellvertretende Schulleiter. Seine Fächer sind Deutsch, Mathe und Physik. Er achtete sehr auf Pünktlichkeit und Sorgfalt. Wenn man bei ihm etwas undeutlich schreibt oder nur ein Ergebnis angibt ohne den Lösungsweg zu zeigen, streicht er mit einem roten Stift alles durch und man muss die ganze Seite neuschreiben. Bei Herrn Schmidt kannst du nicht zu spät kommen. Nicht bei dem.
Die Straße ist unendlich lang.
Nach vielen gefühlten Minuten, kommst du endlich an.
Bei der Schule schließt du eilig dein Fahrrad ab. Hetzt über den kargen Schulhof, vorbei an zwei Basketballkörben und Fußballtoren. Du läufst zu den zwei gläsernen Eingangstüren, reißt sie auf und stürmst zur Treppe. Die Treppe rennst du rauf, biegst in den grünen Mittelstufentrakt ab und läufst bis zum Ende, wo die neunten Klassen im hinteren Teil ihre Klassenzimmer haben. Dein Klassenzimmer ist leer. Niemand ist da. Kein Platz ist besetzt. Das Smartboard ist nicht an und die Fenster sind geschlossen.
Du runzelst die Stirn, fragst dich ob du in einem anderen Raum Unterricht hast. Du holst dein Hausaufgabenheft heraus und schaust auf den Stundenplan, der auf die ersten beiden Seiten geklebt ist. Da steht, dass du Mathe im Raum 142 hast. Aber du stehst in Raum 142.
Du gehst zum Ende des Korridors, fragst dich, ob du zum Lehrerzimmer gehen sollst, entschließt dich aber dagegen und gehst lieber runter ins Erdgeschoss zur Cafeteria.
Dort leuchtet der Bildschirm, der den Vertretungsplan anzeigt. Da siehst du die Zahl neun, den Buchstaben deiner Klasse dahinter. Du folgst der Spalte, dort steht in leuchtenden Buchstaben das Wort »Entfall«.

Paul Ziese © Literaturhaus, Fotografin Sophie Daum
Tamara Bach und Paul Ziese © Literaturhaus, Fotografin Sophie Daum

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