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»Herr Müller« von Clara Leonore Paulick

Er legt gleich los, will mit der nächsten Lektion beginnen, und geht einfach davon aus, dass alle verstehen, wovon er redet und dass alle voll im Thema sind.
Draußen regnet es. Die Blumenkästen auf dem Schulhof werden überschwemmt. Regentropfen trommeln auf das Blechdach der Fahrradständer.
»Gibt’s denn keinen Tafeldienst?«, fragt Herr Müller genervt. Keine Reaktion.
Fast die ganze Klasse guckt mit leeren Augen nach vorne. Jemand sabbert auf den Tisch. Leises Gemurmel und Scharrgeräusche schweben durch den Raum. Luise fühlt ein Stechen im Magen. Sie fröstelt und schaut in ihr Heft. Wütend hingekritzelte Striche auf der ganzen Seite. Ganz lange, hässliche Striche. Aber keine Kurven. Sie hatte es wirklich versucht und trotzdem nichts begriffen.
Mitten in einem gefühlt endlosen Monolog von Herrn Müller hebt sie ihren Arm. Jetzt ist es still. Er schaut irritiert über seine Brille hinweg. »Ja, bitte?«
Er nennt seine Schüler nie beim Namen. Manchmal fragt Luise sich, ob er überhaupt weiß, wie sie heißt.
»Ich wollte Sie fragen …«
Sie zögert. Jetzt ist ihr heiß. Am liebsten würde sie fragen: »Wozu brauche ich bitte diese bescheuerten Kurven?« Aber sie beherrscht sich. Ihr Blick wandert wieder über ihr Heft. Nie, nie würde sie das brauchen. Aber Herr Müller hatte gesagt, es sei wichtig. Die Zahlen verschwimmen vor ihren Augen. Sie sagt: »Also, es ist so, ich denke, ich und viele andere haben die Hausaufgaben nicht ganz verstanden, könnten Sie vielleicht das von der letzten Stunde noch einmal erklären?«

Er guckt ihr in die Augen, sie senkt den Blick. Er ist die Sorte von Lehrer, bei dem alle automatisch ruhig werden, sobald er nur in die Nähe kommt. Sogar die anderen Lehrer haben ein bisschen Angst vor ihm, glaubt Luise. Er hat keine Geduld. Schon gar nicht mit jemandem, der in der neunten Klasse nicht Kopfrechnen kann, und er gibt jedes Mal Hausaufgaben auf.
»Wie bitte?«, sagt Herr Müller. Sehr höflich, doch mit eisiger Stimme. »Wo liegt das Problem?«
»Ähm ich, und ich glaube, auch andere haben nicht verstanden, was Sie erklärt haben«, sagt Luise, »und jetzt machen wir gleich mit der neuen Lektion weiter.«
»Wer hat das Thema nicht verstanden?«, fragt Herr Müller und schaut in die Runde. Die Klasse scharrt mit den Füßen, einige senken ihre Köpfe. Bis auf Luises Freundin Sophia und Philipp der Möchtegernaufrührer zeigt niemand auf.
Luise bricht der Schweiß aus. Ihr Rücken klebt an der Stuhllehne. Eigentlich hat sie immer gedacht, ihre Klasse stünde hinter ihr. Dass das aber alles nur eine Bande von feigen Waschlappen ist, kann sie nicht glauben.
Herr Müller sagt: »Ich kann doch den ganzen Stoff nicht nur für lediglich zwei Schülerinnen wiederholen, wir sind hier schließlich auf einem Gymnasium. Ihr seid selbst dafür verantwortlich im Unterricht aufzupassen.«
»Entschuldigung, aber wir sind drei Schüler.«
Die Lampe spiegelt sich in Müllers Brillengläsern. Sie sieht seine Augen nicht. „»Addition kannst du also.«
»Natürlich kann ich Addition. Wir sind ja hier, wie Sie schon sagten, auf einem Gymnasium. Aber das ändert nichts daran, dass wir Ihnen letzte Stunde nicht folgen konnten.« - »Wie es scheint, seid ihr Drei aber die einzigen. Die anderen haben wohl damit keine Schwierigkeiten. Wenn es ein Problem gibt, könnt ihr nach der Stunde zu mir kommen. Wir haben jetzt schon genug Zeit verloren.«
Nach der Stunde zu ihm gehen? Ja klar, und sich dann zu Hackfleisch verarbeiten lassen und für immer als schwer von Begriff abgestempelt sein, oder was? Mit Sicherheit nicht!
Luise hebt erneut den Arm. Sie starrt ihm direkt in die Augen. Er hat sie gesehen, aber übergeht sie. Herr Müller kritzelt etwas an die Tafel. Sein Monolog geht weiter. Seine Stimme klingt dabei ein bisschen wie eine alte Holztür. Und er nuschelt. Luise wartet noch ein bisschen. Vielleicht nimmt er sie ja gleich doch noch dran. Die Lampen sind viel zu grell. Und sie flackern. Ihr Arm tut jetzt weh. Sie atmet laut aus.
»Herr Müller!?«, fragt sie laut.
»Hast du mich nicht gehört? Extrawürste gibt‘s auf dem Marktplatz, aber nicht hier.«
Luises Hals ist auf einmal zu eng. Ihre Zähne knirschen. Sie wundert sich, dass ihre Stimme so nett klingt.
»Ich glaube, auch Lehrer am Gymnasium brauchen manchmal länger bei ihren Aufgaben. Und ich finde deshalb, ich habe noch eine Chance verdient.«
»Jetzt bin ich aber gespannt.«
Luise sagt: »Wenn Sie meinen Namen wissen, komme ich nach der Stunde. Wenn nicht, darf ich noch einen Vorschlag machen.«
Herr Müller zögert und sagt dann: »Kurzer Blackout. Sag schon deinen Vorschlag.«
»Wenn Ihre Erklärungen einwandfrei waren und tatsächlich alle verstanden haben sollten, was wir letzte Stunde gemacht haben, müsste doch eigentlich jeder in der Klasse das jetzt noch einmal wiederholen und erklären können, oder?«
Er guckt sie an. Er weiß nicht, worauf sie hinaus möchte.
»Ich schlage deshalb vor, jemand aus der Klasse soll die Hausaufgaben an der Tafel vorrechnen. Das Wiederholen festigt das Gelernte und hat schließlich noch niemandem geschadet.« Jetzt hat er verstanden. Er lächelt. Das gefällt Luise gar nicht.
»Wenn ich jemanden finde, der es kann, musst du freiwillig den Tafeldienst für die nächsten zwei Monate übernehmen«, sagt er.
Hilfesuchende Blicke in der Klasse. Leises Aufstöhnen und hektisches Hin-und-her- Blättern. »Lassen wir es darauf ankommen. Michael! Komm bitte an die Tafel!«
Erleichtertes Aufstöhnen im Raum.
Michael ist der Einzige, den Herr Müller beim Namen nennt. Der Klassenstreber, der immer freiwillig noch mehr Aufgaben als nötig macht, und natürlich der Klassenbeste in Mathe. Müller weiß das. Luise atmet tief ein und aus. Ganz langsam. Er hat gewonnen. Jetzt kann sie auch nichts mehr machen. Haare fallen ihr ins Gesicht. Sie hört, dass es aufgehört hat zu regnen. Aber warum passiert nichts? Sie dreht sich um. Michael sitzt immer noch auf seinem Platz. Er ist rot im Gesicht und weicht Müllers Blick aus.
»Michael! Komm bitte an die Tafel!«
»Das geht nicht.«
»Warum geht das nicht?«
»Ich kann die Hausaufgaben nicht erklären.«
»Aber du hast sie doch gemacht, oder?«
Herr Müller steht direkt vor Michael. Sein Bauch ragt über die Tischkante. Michael sieht auf einmal so klein aus.
»Ich … Ich habe sie mit meinem Papa zusammen gemacht«, sagt er leise. Luise hat es fast nicht verstanden. Für einen Moment steht Herr Müller einfach nur da. Mit offenem Mund. Er geht langsam zur Tafel. Seine Schuhe quietschen. Er dreht sich um. Er sieht müde aus. Aber ist das ein Lächeln auf seinem Gesicht? Er guckt Luise an. »Verrätst du mir noch einmal deinen Namen?«

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