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»Sauber« von Allegra Tiedemann

Ich komme immer dann, wenn alle schon weg sind.
Ich gehe durch die schwere Tür ins Schulgebäude. Am Getränkeautomaten bleibe ich stehen, schmeiße ein paar Münzen ein, drücke auf den Knopf neben dem Colaschild und kurz danach fällt laut polternd eine Colaflasche in das Fach hinab. Die Flasche ist eiskalt. Angenehm.
Ich ziehe den Generalschlüssel aus meiner tiefen Manteltasche und stecke ihn in das Schloss zum Putzraum. Drinnen riecht es nach Reiniger und alten Lappen. Die Waschmaschine mit den Putzlappen ist fertig gelaufen. Ich mach sie aus und hänge meinen Mantel an den Haken. Dann greife ich nach dem Putzwagen und stelle alle Utensilien hinein, die ich gleich für meinen Rundgang benötige. Putzlappen und Schwämme, verschiedene Putzmittel, Eimer, Wischmopps und Handschuhe. Zuletzt greife ich nach meinem Handy und den Kopfhörern und schiebe den Wagen in den Flur. Meinen Rundgang starte ich immer in der Mensa, dann geht es zu den Lehrerzimmern und in die Klassenzimmer und anschließend in die Fachräume. Als letztes putze ich immer die Turnhalle.
In der Mensa tauche ich den Wischmop in das noch saubere Wasser im Eimer. Jeden Tag überlege ich mir ein anderes Muster in dem ich den Boden wische.
Gestern hab’ ich in der Ecke neben der Tür angefangen und mich in Zickzackmustern durch den ganzen Raum gearbeitet.
Heute fange ich in der Mitte an und wische den Raum in einem immer größer werdenden Kreis. Die Muster dürfen sich nicht wiederholen. Einmal hab’ ich mich versehentlich verwischt und musste wieder von vorne anfangen.

Vor dem Wischen leere ich die Mülleimer. Die Beutel knote ich zusammen, so kann ich sie leichter entsorgen und stelle sie an die Tür. Wenn ich die schweren, großen Müllsäcke den Müllcontainer hochwuchte, halte ich einen Moment inne, öffne dann die Hände und spüre wie das Gewicht der Säcke von mir abfällt.
Ich fange an im Kopf die Melodie aus meinen Kopfhörern mit zu summen. Leise.
In den Lehrerzimmern gibt es nicht viel zu tun. Ich muss nur die Mülleimer leeren und die Tische wischen.
Danach gehe ich in das Gebäude mit den Klassenzimmern und Fachräumen. Jedes Klassenzimmer sieht anders aus. Das stört mich und ich bin immer froh, wenn ich diesen Teil hinter mir habe.
Das Beste hebe ich mir immer für den Schluss auf. Die Turnhalle.
Ich öffne die schwere Tür zur Halle und schiebe den Putzwagen mit quietschenden Rollen hindurch.
Eigentlich muss ich nur die Umkleidekabinen und den Boden in der Halle wischen, aber ich räume auch immer noch die Gerätekammer auf.
Nachdem die Kabinen sauber sind, gehe ich in die Halle. Anders als in der Mensa wische ich hier den Boden immer gleich. Das ist sehr wichtig. Ich fange in der hinteren rechten Ecke an und wische in langen, ruhigen Bahnen den ganzen Boden. Die Bahnen dürfen sich nie berühren. Ich muss versuchen die Bahnen mit den kleinstmöglichen Abständen nebeneinander zu wischen. Wenn das Wischwasser von zwei Bahnen zusammenläuft, muss ich wieder von vorne anfangen. Mittlerweile passiert mir das nur noch selten.
Ich beginne also den Boden zu wischen. Wenn ich den Wischmopp über den Boden ziehe hinterlasse ich eine feuchte Bahn aus Wasser und Bodenreiniger. Ich versuche in den trocknenden Flecken meine Zukunft zu lesen. Heute sieht einer aus wie eine Wolke. Vielleicht wird es bald regnen. Und das ähnelt der Form eines Pilzes. Ich bin mir unsicher, was das zu bedeuten hat.
Oh das sieht aus wie ein Herz. Werde ich in nächster Zeit jemanden kennenlernen?
Das trocknende Wasserherz lässt mein eigenes schneller schlagen. Wo werde ich diese Person kennenlernen? Worüber soll ich mit ihr reden?
Ich versuche den Gedanken zu verdrängen. Ich mag es nicht lange über ein Thema nachzudenken. Ich brauche Klarheit.
Als der Boden der Halle fertig gewischt ist, lehne ich den Wischmop an den Putzwagen und betrete die Gerätekammer. Alles ist ordentlich. Verzweifelt versuche ich noch etwas zu finden was ich sortieren kann, aber sogar die Leibchen sind nach Farben geordnet und die Badmintonbälle sind aufeinander gestapelt im Regal verstaut. Ich bücke mich und drehe die Fußbälle unten im Regal so, dass alle mit dem Logo nach vorne zeigen.
Dann gehe ich zurück zum Putzraum. Ich räume die Reiniger weg und starte einen neuen Waschgang mit den dreckigen Putzlappen. Als ich mir meinen Mantel nehme und die Tür zu schließe ist es erst 19:06 Uhr. Normalerweise bin ich erst gegen acht Uhr fertig.
Unentschlossen gehe ich zu meinem Auto. Es ist noch zu früh um nach Hause zu fahren, also beschließe ich einkaufen zu gehen, obwohl ich das erst in zwei Tagen geplant hatte.
Ich gehe nie in einem Supermarkt einkaufen. Dort ist es mir zu groß und unübersichtlich und ich treffe zu viele Menschen. Aber nicht weit entfernt gibt es einen kleinen Lebensmittelhändler wo ich immer meine Einkäufe erledige.
Als ich auf der gegenüberliegenden Seite der Straße parke bin ich etwas nervös. Sonst gehe ich immer morgens um halb zehn einkaufen.
Francesco ist der Besitzer des Ladens. Er hat nicht viele Kunden, was ich nicht verstehe, denn er ist immer sehr freundlich und grüßt mich. Manchmal gibt er mir auch Lebensmittel, die noch übrig sind, umsonst mit und sagt dann immer: »Ach gern geschehen mein Freund«, wenn ich mich bei ihm dafür bedanke.
Niemand bezeichnet mich sonst als seinen Freund.

Ich steige aus meinem Wagen und überquere die Straße.
Als ich den kühlen Laden betrete ist niemand da. Ich nehme mir einen Korb und fange an Lebensmittel hineinzulegen. Zwei Mandarinen, eine Gurke, ein Stück Käse, Milch, eine Packung Reis, etwas Hühnchenfleisch, Kekse und drei Flaschen Duschgel.
Francesco kommt durch die Hintertür in den Laden.
»Hallo mein Freund! Du bist heute aber spät dran«, begrüßt er mich fröhlich.
»Ich hatte bei der Arbeit nicht viel zu tun heute«, antworte ich leise.
Wortlos lege ich die Waren auf den Kassiertisch. Francesco beginnt die Preise in die Kasse einzutippen.
»Nanu schon wieder drei Flaschen Duschgel? Du hast doch letzte Woche schon welches gekauft?«, fragt Francesco erstaunt. Ich erstarre und klammere meine Hände um den Henkel des Korbs.
»Ich … das … ähm«, panisch gucke ich in sein erstauntes Gesicht, als er plötzlich wissend nickt. »Ahh ich verstehe mein Lieber. Du hast jemanden kennengelernt und möchtest dich von deiner saubersten Seite zeigen. Da braucht man schon mal etwas mehr Duschgel«, er zwinkert mir zu. Ich versuche zurück zu lächeln: »Ja ähm genau«.
Ich bezahle den Einkauf und will gerade gehen, als Francesco mir eine Schachtel Pralinen in die Hand drückt. »Hier mein Freund. Die sind für dich und deine neue Bekannte. Viel Glück bei eurem Date«, wünscht er mir und klopft mir freundschaftlich auf die Schulter.
»Oh Dankeschön. Das … ist sehr nett. Auf Wiedersehen!«
Vorsichtig lege ich die Schachtel auf meine Einkäufe.
Meine Wohnung liegt im zweiten Stock eines altmodischen Gebäudes in einer einsamen Gegend.
Die anderen Bewohner des Hauses kenne ich nicht wirklich, das ist nicht schlimm.
In der Wohnung nebenan wohnt ein junges Ehepaar mit einer kleinen Tochter. Jeden Abend hört man es laut durch die Wand poltern und brüllen. Nach etwa einer halben Stunde fängt dann das Mädchen an zu weinen und wenig später singen und lachen sie zusammen.
Zwei Stockwerke über mir wohnt eine alte verwitwete Frau. Sie hat sieben Wellensittiche und schaut jeden Morgen nach Post im Briefkasten obwohl dieser immer leer ist.

Als ich zu Hause bin ziehe ich mir meinen Mantel aus und stelle die Einkäufe in die Küche. Dann gehe ich zu dem Aquarium im Wohnzimmer und streue ein bisschen Fischfutter für meinen Goldfisch ins Wasser. Ich habe ihn Karl genannt, wie alle meine Goldfische. So habe ich das Gefühl er ist unsterblich.
In der Küche mache ich mir die Hühnersuppe von gestern warm und setzte mich dann auf meine Couch. Die Nachrichten interessieren mich nicht also schaue ich eine Dokumentation über die Herstellung von Kaugummi. Doch ich bin bald müde und gehe ins Bett.

Jeden Morgen wache ich um 08:06 auf. Ich schüttle mein Bett auf und öffne das Fenster. Nachdem ich geduscht habe, mache ich mir Frühstück.
Als ich fertig bin, stelle ich das Geschirr in den Geschirrspüler und ziehe mir meinen Mantel an. Dann packe ich die drei Duschgelflaschen und ein Tuch in einen Stoffbeutel.
Ich schaue auf die Uhr. 08:58 Uhr. Ich muss noch bis 09:06 Uhr warten, dann kann ich gehen.
Ich darf morgens nie zur gleichen Uhrzeit das Haus verlassen, damit die Nachbarn keinen Verdacht schöpfen.
Nach acht Minuten schreibe ich auf den Zettel neben der Tür das heutige Datum und die Uhrzeit. Dann trete ich in den Flur und ziehe die Wohnungstür hinter mir zu.

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