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»48 Stunden« von Emma Hertzog

Ein Foto. Naomi und ich in einer Umarmung. Hinter uns das nächtliche Berlin. Das war vor zwei Tagen. Nein, vor 47 Stunden und 29 Minuten. Da habe ich sie das letzte Mal gesehen. Und erst heute erfahren, dass sich danach ihre Spur verloren hat. Keiner hat seitdem von ihre gehört. Nicht ihre Familie oder irgendwelche ihrer tatsächlich engen Freunde, keiner ihrer Mitschüler. Nein, ich bin die letzte Person, die Naomi gesehen hat. Und das vor 47 einhalb Stunden. Kurz nachdem das Foto entstanden ist. Ein Polaroid. Eins von vielen an meiner Zimmerdecke. Ich habe sie schon immer als Gesamtkunstwerk gesehen. Das Chaos der ganzen Farben, Orte und Gesichtern lässt mich wieder in die spannenden und fröhlichen Momente eintauchen, die darauf festgehalten sind. Aber gleichzeitig lassen mich die eingefangenen Erinnerungen ruhig werden bis ich erstarrt daliege … So wie jetzt. Aber ruhig bin ich überhaupt nicht. Meine Muskeln sind angespannt und gleichzeitig habe ich das Gefühl, ich darf sie auf keinen Fall bewegen. Ich zucke zusammen, als ich aus den Augenwinkeln plötzlich meine Hand sehe. Meine ausgestreckten Finger nähern sich immer mehr der winzigen Gestalt von Naomi auf dem Bild oben links.

Mein Gehirn braucht ein bisschen, um den Standort meiner Finger zu verstehen und noch länger, um zu merken, dass sich mein Körper genauso anfühlt wie zuvor. Die Anspannung ist noch da. Auch mein Herzklopfen. Ich versuche meine Konzentration wieder auf das Foto zu lenken, weg von mir. Mein Blick springt von Foto zu Foto, von Erinnerung zu Erinnerung. In der Mitte Naomi und ich am Strand. Wir lächeln beide. Das war vor fünf Jahren. Damals waren Naomi und ich beste Freundinnen. Etwas weiter rechts davon ist das Lächeln auf unseren Gesichtern verschwunden. Naomi steht mit ihrem Koffer neben mir. Ich weiß noch wie es mir damals unglaublich wichtig war, nicht vor ihr zu heulen. Und wie sie mir versprochen hatte, dass ich ihre beste Freundin bleiben würde. Immer. Geweint hatte ich erst als das Auto nach Berlin wegfuhr. Bevor mein Blick doch wieder nach oben links gleitet, überrollt mich eine neuere Erinnerung. Eine zu der ich kein Foto habe. Heute Nachmittag, als es an der Tür geklingelt hat und die Stimme des Polizisten, die ich nicht mehr aus meinem Kopf bekomme, sagte: »Wir müssen ihnen leider mitteilen, dass ihre Freundin Naomi Briggs seit der Nacht von Samstag auf Sonntag vermisst wird. Vielleicht können Sie uns helfen«. Die Unruhe in meinen Muskeln spürte ich wieder stärker. Ich will mich gar nicht wieder daran erinnern. Wie er mich aus seinen mitleidigen Augen angestarrt hat. Seine unangenehmen Fragen.
»Um wie viel Uhr haben Sie Frau Briggs denn das letzte Mal gesehen?«
»Das muss so gegen 3 Uhr nachts gewesen sein, als sie mich am Bahngleis verabschiedet hat.«
»Ist ihnen in der Nacht aufgefallen, dass sich Frau Briggs ungewöhnlich verhalten hat?«
»Nein, sie war ziemlich aufgekratzt und ein bisschen euphorischer als sonst, aber das ist an solchen Abenden doch normal, oder?«
»Sind Ihnen irgendwelche anderen Personen aufgefallen, die sich viel in ihrer Nähe aufgehalten oder auffällig verhalten haben?«
»Nein, eigentlich war alles normal.«
Und dann noch sein Hinweis, dass jede Sekunde zählt. Weil nach 48 Stunden, statistisch die Wahrscheinlichkeit, dass Vermisste gefunden werden, mit jeder Minute weiter sinkt.
Mein Blick landet jetzt bei dem neuesten, letzten Bild von ihr. Ist da nicht ein bisschen Trauer in ihrem Blick? Obwohl sie vorgibt zu lächeln und mich umarmt? Wieso habe ich an dem Abend nicht überlegt, ob nicht irgendwas komisch ist an der Situation. Ich hatte mich gefreut, als sie sich mal wieder gemeldet hatte, um mich zu sich nach Berlin einzuladen. Einfach so. Aus dem Nichts. Wir hatten seit mindestens einem Monat nicht mehr geschrieben und dann lud sie mich plötzlich direkt zu sich ein? Das Treffen war auch gar nicht so gewesen wie sonst. Hätte ich das dem Polizisten vielleicht doch sagen sollen? Sie hatte gar nicht wie die letzten Male von ihrem aufregenden neuen Leben erzählt. Wie bei unserem vorletzten Treffen. Da war es um ihre »bis jetzt krasseste Mutprobe gegangen«, bei der sie mit ihren coolen neuen Freunden auf die U-Bahngleise geklettert war. Selbst auf dem Foto sah man die Distanz zwischen uns. An diesem letzten Abend dagegen … Wir saßen in demselben Café, aber sie war nostalgisch und erinnerte sich an unsere Kindheit zurück, während sie pausenlos ihren Kaffee umrührte. Mir steigt fast wieder der Geruch in die Nase. Noch etwas, das anders war. Früher hatte sie ihren Kaffee nie schwarz getrunken, aber sie hatte sich sogar über meinen Milchkaffee lustig gemacht. Den ganzen Abend über hatte sie viel gelacht. Wie in dem Moment vor beinahe 48 Stunden, als sie einer fremden Frau meine Kamera in die Hand drückte und mich in eine Umarmung zog. Hatte die Frau uns hinterhergeguckt, als wir zum Bahnhof rannten? Mein Körper zieht sich zusammen. Ich habe den Polizisten tatsächlich angelogen, oder nicht? Ich rief mir den letzten Moment im Café wieder zurück in den Kopf. Wie sie mir in ihrem dunkelgrünen Oversized Hoodie gegenübersaß und fragte, ob ich nicht noch ein paar Stunden länger als geplant bleiben könnte. Hatte sie in dem Moment irgendeinen Plan gefasst? Bedeutete es etwas, dass sie lange Ärmel trug? Und krempelte sie ihre Ärmel nicht einmal kurz hoch? Vielleicht ausversehen? Oder… Ich kann mir jetzt immer noch gut vorstellen, dass sie die ganze Nostalgie nur spielte, weil sie wusste, dass ich darauf anspringen würde. Ja, ich traue ihr zu, dass sie das ganze Treffen vor knapp 48 Stunden nur inszeniert hat, um danach für ein paar Tage zu verschwinden damit es mich in den Wahnsinn treibt. Ihre neue krasseste Mutprobe. Damit sie dann zum krönenden Abschluss ihren Freunden von meiner Reaktion erzählen kann, wenn sie mich plötzlich anruft. Oder sie hören den Anruf sowieso live mit. Andererseits … War da nicht doch etwas, dass ich dem Polizisten hätte erzählen können? Wie traurig sie aussah, als sie mir vom Bahnsteig aus noch zuwinkte? So als würde sie wirklich wieder mehr mit mir machen wollen? Wir waren den ganzen Weg zum Gleis gerannt und ich hätte den Zug mit Sicherheit trotzdem verpasst, wenn er nicht fünf Minuten Verspätung gehabt hätte. Auch da hatte sie mich angegrinst. »Die deutsche Bahn ist auf deiner Seite«. Passend zu ihren Worten kam dann der Zug. Ich drehe mich um und starre auf die Uhr. Gleich …
48 Stunden …

Emma Hertzog © Literaturhaus, Fotografin Sophie Daum
Emma Hertzog © Literaturhaus, Fotografin Sophie Daum

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