Springe zum Inhalt

»Ausgezählt« von Carla Fabricius

Sie steht vor dem Kühlschrank und wartet auf 4 Uhr. Noch 5 Sekunden. 4,3,2,1,0. Sie öffnet ihn mit der rechten Hand und greift in das oberste Fach. Es ist leer. Ihr Herz pocht schneller, während sie den leeren Boden abtastet.
Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Es ist 4 Uhr und es befindet sich keine Vollmilchschokolade im Kühlschrank.
Die letzten 20 Jahre lagen dort jeden Tag 2 Tafeln Schokolade, Vollmilch, 32 Prozent Kakaoanteil. Heute nicht.
Sie muss augenblicklich los und Neue kaufen. Sie eilt mit genau 8 Schritten in den Flur ihres Hauses. Von der Kommode nimmt sie ihren Geldbeutel und öffnet ihn. Sie zählt ihr Kleingeld nach. Es befinden sich 6 zwei Euro Stücke darin. Gut. Sie mag nur gerade Zahlen. Sie schließt das Portmonee und geht mit 4 Schritten zur Tür. Sie öffnet diese und tritt nach draußen. Es weht eine leichte, warme Brise. In der Blumenschale steckt ein Thermometer. 18 Grad.
Nur noch die 4 Stufen der kleinen Steintreppe nach unten laufen, zwei sehr große Schritte nach rechts, dann steht sie schon vor ihrem Briefkasten. Sie hat jeden einzelnen Kieselstein, der in den Waschbeton der Treppe eingelassen ist, gezählt. Auf der obersten Stufe sind es 214, auf der zweiten 218, auf der dritten 208, aber die vierte Stufe mag sie am liebsten.
Genau 222 Steine sind darauf. Ihre Lieblingszahl.

Sie zählt um sicherzugehen jeden Tag nach. Ihr Briefkasten ist der ganz linke. Es gibt insgesamt 4 Briefkästen. Eigentlich hatte es nur drei gegeben, sie hatte aber einen vierten für sich angeschraubt, damit das Gleichgewicht gewahrt blieb. Sie öffnet den Briefkasten und nimmt einen an sie adressierten Brief heraus. Sie lächelt den Umschlag an. Post für sie! Einmal im Monat schreibt sie einen Brief an sich selbst.
Dann erzählt sie sich von ihrem Leben und ihren Problemen. Das beruhigt sie.
Neulich haben die Kinder von nebenan an ihrer Haustür sturmgeklingelt. Sie hat zwar nicht aufgemacht, aber beinahe wäre ihr die Situation entglitten. Etwas, was ihr unter keinen Umständen passieren darf. Den Brief wird sie später lesen. Sie freut sich. Aber erst muss sie die Schokolade holen. Sie macht sich auf den Weg.
Sie zählt ihre Schritte bis zum nächsten Mülleimer. 42, 43, 44.
Sie schaut dabei immer zu Boden und schaut erst wieder hoch, wenn sie angekommen ist. Der Mülleimer ist weg! Vor zwei Tagen stand. an genau dieser Stelle noch ein grüner Mülleimer mit dem Gemeindelogo Jetzt ist nur noch ein Loch im Pflasterstein zu sehen. Sie wird sich beim Bezirksamt beschweren!
Sie atmet schneller.
Ihr Herz fängt an zu rasen, während sie mit glasigen Augen auf das Loch im Asphalt starrt. Sie bemüht sich ruhiger zu atmen. Ein, aus, ein, aus. Sie zählt ihre Atemzüge. Ihr Herzschlag beruhigt sich ein wenig.
Sie reißt ihren Blick von dem Loch auf dem Gehsteig und setzt ihren Weg fort.
Nun ist sie am Supermarkt angekommen. Sie betritt ihn, und macht sich sofort auf den Weg zur Süßwarenabteilung. Sie bleibt am Eingang zwischen den beiden Regalen stehen. Sie braucht immer genau 10 Schritte bis zur Vollmilchschokolade. Nun steht sie genau dort, wo sich immer ihre Schokolade immer befindet. Doch sie schaut auf einen leeren Karton. Ausverkauft! Ihre Hände fangen nun an zu zittern und ihr Atem wird unruhig. Ihr Kopf schwirrt und sie fängt an zu schwitzen. Sie muss sich beruhigen. Sie zählt, Einatmen, Ausatmen, aber es hilft nicht. Irgendwie muss sie sich ablenken. Zur Käsetheke? Wurst kaufen? Sie entscheidet sich, zur Wursttheke zu gehen und etwas Bierschinken zu holen.
Sie macht sich auf den Weg, zählt ihre Schritte, ihren Herzschlag, ihre Atemzüge, kommt durcheinander … Wo war sie gerade noch mal? Die 22 hatte sie schon. Oder nicht? Sie hätte sie nicht vergessen. Oder doch? 24, 25, 26. Sie ist an der Wursttheke angekommen. Sie reißt sich einen Zettel aus der Rolle mit den Wartenummern ab. Nummer 23. Sie ballt ihre Hand zur Faust und zerknüllt ihn darin. Möglichst unauffällig lässt sie ihn hinter sich auf den Boden fallen. Sie reißt die 24 ab und mustert das Müsliregal rechts von sich. Es gibt 4 Regalböden. Auf jedem stehen 10 verschiedene Sorten. ,»23« ruft die Frau hinter der Theke. Ihre Aufmerksamkeit gilt nun voll und ganz einer Packung Cornflakes.
Da sich niemand meldet ruft die Verkäuferin nun: »24«. Sie tritt an die Theke und sagt: »Bitte 6 Scheiben Bierschinken, also 100 Gramm.« Die Verkäuferin wundert sich nicht. Sie pickt mit der Wurstgabel 6 Scheiben Bierschinken nacheinander von einem Stapel und legt sie auf die Waage. Nun sind nur noch 3 übrig. Die Digitalanzeige geht in die Höhe. 97, 98, 99. Die Anzeige stoppt bei 100. Der Klebezettel kommt aus einem Gerät daneben. Der Blick der Verkäuferin wandert zurück zu den 3 übriggebliebene Scheiben Bierschinken.
,»Wissen sie was? Ich schenke ihnen die letzten 3 Scheiben. Den Schinken können wir heute nicht mehr ganz verkaufen. Es ist schon spät, und er ist ohnehin fast ganz weg.« Ohne eine Antwort abzuwarten legt sie die Schinkenscheiben auf den Stapel, wickelt den Schinken in Papier, und klebt den Zettel drauf. »Bitte sehr, schönen Abend noch!« Die Verkäuferin reicht die Tüte über die Theke und erwartet, dass sie angenommen wird.
Nein, nein, nicht neun, nein!
Es ekelt sie vor der Tüte, und ein fieses, krampfartiges Gefühl erreicht ihren Magen. Ihr wird schwindelig. Der Mülleimer, die Schokolade, und jetzt das. Das Schwindelgefühl ist kaum noch zu ertragen. Sie wankt und sieht nur noch das schockierte Gesicht der Verkäuferin, bevor sie nach hinten fällt und auf dem Boden aufschlägt.

Carla Fabricius © Literaturhaus, Fotografin Sophie Daum
Carla Fabricius © Literaturhaus, Fotografin Sophie Daum

Schreibe einen Kommentar