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Warum

21. Juni 2016 / Frühjahrskurs 2016
von Maria Odoeveskaya

Weil eine Sprache mir erst wirklich gehört, wenn ich ihre Sätze so verbiegen kann, dass aus den Leerstellen in ihnen Tunnellabyrinthe entstehen.

Weil ich das Gefühl kenne, wenn einem keine Sprache wirklich gehört, weil Russisch außerhalb der Migrantenunterkunft nichts galt und ich auf Deutsch nicht einmal einen ganzen Satz bilden konnte, geschweige denn ein Leerstellenlabyrinth aus Sätzen.

Weil ich in den kleinsten Rissen irgendeiner fruchtlosen Internetdiskussion meine stumm machende Ehrfurcht verlor und mich traute zu denken: dieser Welt fehlt etwas, wenn ich es nicht sage.

Weil man sich diese Frage, diese unerhörte Frage, Ist es wirklich wert, gesagt zu werden, immer wieder stellen muss, und weil die noch unerhörtere Antwort, Ja, niemals selbstverständlich ist.

Weil dieser Welt etwas fehlt. Wenn ich es nicht sage. Ist das nicht ein erregender, schwindelerregender, wahnsinniger, wahnsinnig machender Gedanke.

Weil dieser Welt etwas fehlt, weil mir so viel fehlen würde, wenn es "4.48 Psychosis", "Woyzeck", "Last Exit To Brooklyn" und "Die Einsamkeit der Primzahlen" nicht gäbe, weil man sich nie weniger einsam fühlt als in dem Moment, wenn ein Satz in einem Buch endlich die Stille zerbeißt, weil es Menschen gibt, die einen Text von mir gehört und mir gedankt haben, weil ihrer Welt bis dahin etwas gefehlt hat.

Wenn ich es nicht sage. Ist es wirklich wert, gesagt zu werden. Ich habe die Stille dieser Frage zu einem Diamant gepresst und behalte ihn im Mund, bis ich ihn endlich zerbeißen kann.

Weil dieser Diamant mir oft in der Kehle stecken bleibt und mir dann die Luft ausgeht, bevor ich etwas sagen kann, weil ich nicht verstehe, wie Menschen miteinander sprechen können, ohne dass ihnen die Luft ausgeht, wie Menschen miteinander sprechen können, ohne etwas zu sagen, und wie etwas sagen, wenn die Antwort jederzeit "Hä?" sein kann oder "Oh.", und wie überhaupt sprechen, ohne dass eine Unendlichkeit uns voreinander schützt.

Weil Sprachlosigkeit ein Diamant sein muss, wenn Reden Silber ist und Schweigen Gold, und ich selten eine so große Angst vor dem Sterben hatte wie bei dem Gedanken daran, wie dieser Diamant mir von innen die Kehle zerschneidet.

Weil ich beim Schreiben keinen Akzent habe. Weil ich beim Schreiben nicht stottere.

Weil ich den Menschen nicht mag, der ich bin, wenn ich nicht schreibe, und mir oft nicht sicher bin, ob es ihn überhaupt gibt. Weil ich mir nie so sicher bin, dass es mich gibt, wie beim Schreiben, und es dann in Ordnung ist.

Weil ich der Un-Fassbarkeit der Welt im Schreiben eine Nadel in den Schmetterlingsleib stoßen kann, weil es keinen größeren Größenwahn gibt als den, an die Fassbarkeit der Welt zu glauben, und ich glaube nicht daran und behaupte sie trotzdem. Weil es nichts Wichtigeres gibt als dieses trotzdem.

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