Springe zum Inhalt

»Die leichte Elite« von Anne Rupp

Magersucht ist keine Sucht, sondern eine Seuche, die nur in einer Welt aus Plastik und Parfum existieren kann. In einer Welt, in der die Oberfläche alles ist was zählt.
Einer Welt, in der niemand einen Sturm unter einem stillen Gewässer vermutet.
Überfallen von der Seuche werden nur Mädchen wie wir.


Es gab mal eine Zeit, da bestanden unsere Wimpern aus Sonnenstrahlen und jedes Muttermal war ein Diamant, dann aber kam die Magerseuche und legte sich wie ein Schatten über unsere strahlenden Gesichter. Eine Sonnenfinsternis und die Dunkelheit lässt uns zu Skeletten werden, Gruselgestalten, deren Rippen sich in der Nacht in Flügel verwandeln und mit Hüftknochen, auf denen man Klavier spielen kann. Die Stimmen singen dazu in unseren Köpfen und sie singen schief. Nie treffen sie die Töne, in den Höhen wird ihr Klang schrill und unerträglich, in den Tiefen
kann man kein Wort mehr verstehen.

Die Melodie des Selbsthasses ist keine schöne, sie klingt schrecklich und lässt uns nie in Ruhe, läuft die ganze Zeit, wie ein Ohrwurm, den man einfach nicht loswird.
Das was wir immer wollten, ist eingetreten, aber irgendwie fühlt es sich noch nicht richtig an, irgendwie ist es nicht alles, irgendwie reicht es uns nicht aus, wir wollen mehr, immer mehr, wir können nie genug vom Nichts haben. Also setzen wir uns unter den Nachthimmel und warten auf Sternschnuppen, aber es kommen keine und obwohl wir ahnen, dass niemals wieder eine über unseren Horizont ziehen wird, starren wir weiter ins Nichts, bis der Horizont verschwindet, unsere Zukunft sich in Luft auflöst und das einzige, was uns übrig bleibt, ist, wieder zu Sternstaub zu werden. Wie ist in einem so klein gewordenen Menschen noch so viel Platz für so große, düstere Gedanken, die wie schwarze Schmetterlinge in unsere leeren Mägen kriechen und mit ihren Flügeln schlagen, schlagen und schlagen, um uns daran zu erinnern, wie befreiend der Hunger und wie erfüllend die Leere sein kann?

Wenn die Magerseuche eine Sucht ist, dann ist sie die Sucht nach Kontrolle, das Verlangen nach absoluter Selbstdisziplin. Der Hunger bleibt, wenn alles aus den Fugen gerät. Abnehmen ist das letzte, was wir noch kontrollieren können. Wenn man leicht ist, dann könnte doch auch alles andere leicht werden, oder? All die Probleme, all die bösen Gedanken könnten endlich weg fliegen, so wie unsere Skelette es tun werden, wenn selbst sie nicht mehr genug wiegen, um uns auf dem Boden zu halten. Abheben...unsere knochigen Flügel ausbreiten…für immer im Dunkel der Nacht verschwinden… Der Gedanke ist absurd, aber auch diese Krankheit ist absurd, ist ein Produkt des Überflusses, etwas, das nur existieren kann, weil es von allem zu viel gibt. Wir konnten uns noch nie für das Richtige entscheiden, die Seuche ist das einzige, was wir noch haben, ist das einzige, was allein uns gehört. Uns, der leichten Elite.

Dünne Mädchen leben und schweben in schillernden Seifenblasen, weil nur sie von ihnen getragen werden können. Nur wir können uns über den Wolken halten, Wolken aus Zuckerwatte, die mal weiß, mal rosa und meistens schwarz sind. Hunger schmeckt besser als Essen, man muss nur lernen das leere Gefühl im Magen zu genießen, man muss die knubbligen Knie mögen, die breiter sind als unsere knochigen Beine und man muss verstehen, wie wichtig es ist, dass wenigstens durch die Schlucht zwischen unseren unterarmdünnen Oberschenkeln noch die Sonne scheint. Nur wir können verstehen warum abnehmen wie Frühling ist während es für die anderen wie verwintern, verwelken aussieht. Nur wir können verstehen, warum der Hunger Samen in unseren Mägen sät, aus denen Rosen sprießen. Jeder weiß, dass Rosen Dornen tragen, aber nur wir wissen wirklich wie es sich anfühlt, wenn diese Dornen unsere Organe zerfetzen, sie aufspießen und uns Blut kotzen lassen. Hungern ist ein Tanz auf Messers Schneide. Einem Messer, dass so scharf ist, wie die spitzen, hervorstehenden Knochen, die sich durch unsere alternde Haut bohren, während unsere Gehirne immer jünger, immer dümmer werden. Sie finden es traurig zu beobachten, wie unsere Haut zu Pergament wird, ein Blatt beschrieben mit Formeln, die Kalorien, Nährwerte und Kilogramms berechnen. Die wunderschönen Mädchen werden zu Zahlen und unsere Haare, die einst aus Glitzer bestanden, zerfallen zu Staub.

von Anne Rupp

Schreibe einen Kommentar