Sie wollten im siebten Bezirk essen gehen, sie wollten sich im Kino einen Film anschauen, aber es ist Freitagabend und schönes Wetter und Pauline raucht drei Zigaretten und wartet seit einer halben Stunde und bekommt keine Antwort: sie wurde versetzt. Neidisch beobachtet sie die Menschenmassen, die in kleinen Gruppen an ihr vorbeiziehen und bekommt schlechte Laune. Sie hat extra den ganzen Tag lang nichts gegessen, ein Sommerkleid angezogen und ihr neues Paar offene Schuhe. Sie hat Lippenstift aufgetragen, viel Parfum, und sich die Wimpern getuscht. Jetzt verläuft die Wimperntusche, denn Pauline hat angefangen zu weinen. Mit zittrigen Händen raucht sie eine vierte Zigarette, drückt sie mit der Schuhsohle aus, klappt einen Taschenspiegel auf, um sich nachzuschminken. Es gelingt ihr nicht wirklich; die Wimperntusche klumpt und der Concealer bildet eine Kruste, da, wo ihre Tränen einen Salzrand zurückgelassen haben. Der Lippenstift ist an den Rändern verlaufen und in den Falten ihrer Unterlippe eingetrocknet. Pauline wischt noch ein wenig an ihrem Mund herum, dann klappt sie den Spiegel zu, steht auf, und geht zum nächsten Supermarkt.
Im Supermarkt ist es hell und bunt und voll mit Produkten. Pauline lässt sich Zeit. Pauline hört einen Podcast über die Auswirkungen der Merkur-Rückläufigkeit auf ihr Sternzeichen und füllt den roten Einkaufkorb mit giftgrünen Apfelringen von Haribo, Eis von Ben&Jery‘s, Aufbackbrötchen, Erdnussbutter, Honigwaffeln, getrockneten Tomaten, Feta- Käse, und einem Snickers Riegel für den Weg. Pauline zahlt 23 Euro und 75 Cent mit Karte. Pauline fährt in die Wohnung. Pauline schiebt die Brötchen in den Ofen. Pauline schaut sich ein YouTube Video mit astrologischen Vorhersagungen für den kommenden Monat an. Das Video ist achtundvierzig Minuten lang. Pauline isst achtundvierzig Minuten lang. Die Mitbewohner gehen auf eine Party. Pauline geht ins Badezimmer. Pauline geht vor der Kloschüssel in die Knie, sie kotzt und ihre Kotze klumpt wie Wimperntusche.
Im Einkaufszentrum bekommt Pauline Heimweh. Sie ist hierhin gefahren, weil sie den Anblick des verstaubten Zimmers nicht ertragen konnte, sie wollte raus, aber sie wollte nicht in die Natur oder irgendwohin, wo alte Häuser stehen. Sie hatte das Verlangen nach Klimanlagen und elektrischen Glastüren und Neonröhrenlicht und grellen, unnatürlichen Farben. Sie ist direkt aufgestanden, hat geduscht, sich die Wimpern getuscht, Glitzer auf die Schlüsselbeine geschmiert und sich mit so viel Parfum eingesprüht, als würde sie auf eine Party gehen. Sie hat farblich zueinander passende Unterwäsche angezogen, das Sommerkleid von gestern und auch die offenen Schuhe. Sie hat sich ein Video darüber angeschaut, wie man Lippenstift richtig aufträgt und ist mit dem Ergebnis zufrieden. Sie hat nichts gefrühstückt, weil die Mitbewohner in der Küche waren und darüber ist sie jetzt froh. Sie ist rausgegangen, mit leerem Magen, flachem Bauch, und hat das gute Sommerwetter ignoriert. Während der Bahnfahrt hat ihr Oberschenkelmuskel gezuckt und sie hat sich beobachtet gefühlt. Ihr Atem ist ganz flach gewesen und erst im Einkaufszentrum hat sie wieder Luft bekommen. Und dann hat sie Heimweh bekommen. Heimweh nach dem Elbe-Einkaufszentrum in Hamburg-Osdorf. Sie will nicht, dass ein schöner Hochsommertag in Wien ist. Sie will, dass einer dieser bewölkten Sprühregentage im MärzNovemberFebruar ist und ihr und der Mutter langweilig ist. Sie würden dann ins Auto der Mutter steigen und über die Osdorfer Landstraße fahren mit den Einfamilienhäusern und Tankstellen und Autohändlern und dem Lidl am Wegrand. Und Pauline würde schlecht werden, weil die Mutter so stockend fährt und im Radio würde nur ätzende Musik laufen und Pauline würde versuchen mitzusingen, aber die meisten Texte würde sie gar nicht kennen und dann würde die Mutter Nachrichten anmachen und dann würden sie im Parkhaus parken und ihre Winterjacken im Auto liegen lassen. Und draußen wäre es grau und dunkel und kalt. Und im Elbe-Einkaufszentrum wäre es warm und hell und bunt und im Elbe-Einkaufszentrum würde der Boden glänzen und er wäre so glatt, dass Pauline kurz denkt sie rutscht gleich aus, aber sie rutscht nicht aus, sie fängt sich und dann fängt sie an sich zu berauschen: an Neonröhrenlicht und Trendfarben, und an Parfum Schwaden, die aus der Douglas-Drogerie in den Ganz ziehen und an Handyhüllen und Haarglätteisen, die im Gang verkauft werden, und an falschen Diamanten, die im Schmuckladen glitzern und an Nachhemden aus Polyester mit Spitzenborden. Und neben den Rolltreppen wären die falschen Bäume mit den Blättern aus echtem Plastik. Und unten im Food Court gäbe es den Burger King, den Sushieladen und die Slushies in grün, blau und pink. Und oben, ein Stockwerk höher, wäre das Eiscafé Toscana, und da gäbe es Flipper und Schokobecher und bunte Streussel und es gäbe Spagetti-Eis und die Sahne im Spagetti-Eis wäre gefroren.
Aber Pauline ist nicht im Elbe-Einkaufszentrum und lacht mit ihrer Mutter darüber, dass der Kofferladen seit 2013 seinen großem Räumungsverkauf ankündigt. Pauline ist im Donauzentrum und schaut alleine die Schaufensterpuppen an und die Schaufensterpuppen tragen Trendfarben und schauen zurück.
Bei Starbucks nennt sie der Barista einen falschen Namen. Vor einer falschen Palme setzt sie sich auf eine Bank, schlürft den Choocolate-Chip-Frappuchino, macht ein Bild von sich, wie sie den Frappuchino trinkt, lädt es in ihre Instagram-Story, überlegt sie es sich anders und löscht es wieder. Sie öffnet den Kontakt der Mutter, ihre Finger schweben kurz über dem Anrufssymbol. Dann überlegt sie es sich anders, steht auf, schmeißt den Becher in den Müll und fängt an Geld auszugeben.