19. Juni 2014 / Frühjahrskurs 2014
Ich drücke das Gaspedal durch und habe richtig Lust, dem plötzlich vor mir ausscherenden Passat kräftig auf die Stoßstange zu fahren. Im letzten Moment bremse ich und hupe sekundenlang. Als der Greis wieder nach rechts wechselt, beschleunige ich und schüttele mit dem Kopf, während der Alte am Steuer des Passats mich verloren anblickt. Ich schalte den Scheibenwischer eine Stufe höher. Seit Egestorf schüttet es wieder wie aus Eimern auf die Autobahn, nachdem das Gewitter über Norddeutschland schon kurz nach meiner Abfahrt in Hildesheim vorbei gewesen zu sein schien. Der Sommerregen prasselt mit solch einem Lärm auf meine Windschutzscheibe, dass ich das Radio lauter stellen muss. Aber überall läuft wieder nur Musik, die am Computer gemacht wird. Ich trommle mit den Fingern auf das Lenkrad und versuche zu ergründen, warum ich so gereizt bin. Den Stau am Dreieck Walsrode habe ich jetzt schon fast eine halbe Stunde hinter mir, aber er hat mich knapp eine Dreiviertelstunde gekostet und ich kann ihm meine Verspätung nicht verzeihen. Der Regen will nicht aufhören und die düstere Wolkendecke taucht die Autobahn in ein trostloses Grau, aber immerhin zeigen die blauen Tafeln eine immer kleiner werdende Zahl für die Entfernung nach Hamburg.
Um zwanzig nach acht steige ich aus dem Auto und gehe zu meiner Wohnung. Der Weg wird schätzungsweise mehr als zehn Minuten dauern, weil es viel zu wenige Parkplätze gibt in dem stadtplanerisch skandalösen Stadtteil, in dem ich wohne. Ich zücke mein Handy. Das Display teilt mir mit, dass ich zwei Anrufe verpasst habe. Der erste Anrufer hat eine Nummernunterdrückung, der andere muss jemand aus der Redaktion gewesen sein, das erkenne ich an den ersten Ziffern der Nummer. Ich bin schon wieder den ganzen Tag unruhig gewesen, genau genommen seit gestern Vormittag. Deshalb entscheide ich ausnahmsweise, dass es besser sein wird, um diese Uhrzeit nicht mehr dienstlich zu telefonieren, während ich über die vom Regen dampfenden Bürgersteige laufe.
Mittlerweile ist es trocken und das Sommergewitter verzieht sich Richtung Horizont. Ich kann eigentlich gerade überhaupt niemanden sehen und bereue es, dass ich jetzt schon seit über fünf Wochen einen alten Freund bei mir beherberge, weil seine Freundin ihn aus der gemeinsamen Wohnung geschmissen hat. Wohngemeinschaften bin ich nicht gewohnt und ich war immer ein Gegner davon, auf engem Raum mit halb fremden Menschen zusammenzuwohnen. David ist zwar kein Fremder, trotzdem stören mich einige seiner Angewohnheiten und seine ständige räumliche Nähe in meiner Dreizimmer-Wohnung.
Ich fische gereizt den Flyer eines Pizza-Lieferanten aus meinem Briefkasten, obwohl ich einen Hinweis darauf angebracht habe, dass keine Werbung einzuwerfen sei. Dann haste ich durch das Treppenhaus zu meiner Wohnung im dritten Stock. Aus der Tür dringt schreckliche Musik nach draußen.
David?, rufe ich fragend und schließe die Wohnungstür hinter mir.
Ja-a!
Ich ziehe meine Schuhe aus und luke durch die Tür zu meinem Arbeitszimmer, das er bewohnt. Er steht vor einer Staffelei und arbeitet an einer Leinwand. Ich kann die Konturen einer weiblichen Figur erkennen und dass sie ein blaues Kleidungsstück trägt. Dass er malt, wusste ich bisher nicht. Widerspenstiger Zigarettenrauch schwappt mir entgegen.
Hast du schon gegessen?, frage ich.
Ja und es ist noch genug für dich da.
Danke.
Ich male nur noch ihr Haar zu Ende, setze mich gerne zu dir, bietet er an.
Tu mir einen Gefallen und lüfte mal, es riecht, sage ich und deute auf das Fenster.
Klar, entschuldige bitte.
Sag mal, seit wann malst du?
Seit heute.
Und wer ist das bitte schön?
Die Blaue, grinst er.
Die Blaue? Du hast sie nicht mehr alle.
Erinnerst du dich?
Klar.
Du Idiot hast dich nicht getraut, sie anzusprechen!
Ich muss aufs Klo, sage ich und verschwinde aus der Tür.
David hat leider nicht abgewaschen und in der Spüle stapeln sich ein paar Teller, seine Espressotassen und eine ganze Menge Besteck. Ich drücke meine Kiefer zusammen und balle mit beiden Händen Fäuste. Ich hatte ihn extra darum gebeten, weil ich diese Berge genauso hasse wie Trittbrettfahrer, für die das Mitgezogenwerden zur Selbstverständlichkeit wird. Ich ertappe mich, wie ich streitbare Punkte an ihm suche. Wahrscheinlich hat er es einfach heute einmal vergessen.
Ich habe überhaupt keine Lust, beginne aber doch mit dem Abwasch. Seit mehreren Wochen wohne ich jetzt in einer Zweier-WG, in deren kleiner Küche sich tagelang auf seinen Abwasch wartendes Geschirr stapelt. Ich mache mir ernsthaft Sorgen, dass ich mein Arbeitszimmer neu streichen kann, wenn David auszieht und vom Zigarettenrauch vergilbte Tapeten hinterlässt. Als ich mit dem Abtrocknen beginne, kommt er in die Küche und setzt sich auf die Holzbank an dem kleinen quadratischen Tisch in meinem Rücken.
Danke für diesen Eintrag, ich habe ihn gleich verschlungen. Gerne würde ich mehr davon lesen und bin etwas neidisch auf Deinen unverkrampften, natürlichen Erzählstil. Lediglich die beiden Sätze ab "Wohngemeinschaften bin ich nicht gewohnt" würde ich streichen, weil sie aus dem Rest herausfallen. Man ist gerade so schön im Moment drin. Oder aber weiter ausführen den Gedankenexkurs in die allgemeine WG-Abneigung.
Obwohl ich wirklich kein emotionales Verhältnis zu Autoherstellern und deren prototypischen Fahrzeugführern habe: Der Passatopihass ist ansteckend!