Jule holte ihr Handy aus der Tasche und überprüfte, ob sie an der richtigen Adresse waren. Sie sagte: »Wollen wir hier wirklich übernachten? Die nächste Adresse wäre nur drei Kilometer weiter.«
»Nein, wir übernachten jetzt hier!«, antwortete Laura.
Sie stiegen die Treppe in den ersten Stock herauf. Es roch nach Putzmittel und kaltem Schweiß und auf der zweiten Treppenstufe standen alte Bierflaschen. Durch die Tür hörte Jule klassische Musik. Sie klopfte. Ein Mann mit langen Haaren und Schnurrbart öffnete und starrte sie an, sagte aber nichts.
»Hallo… Wir sind hier zum Couchsurfen angemeldet.« (lange Pause)
»Ah … Okay.«
»Wir möchten hier übernachten. Wir sind Couchsurfer.« (lange Pause)
»Dazu müsst ihr aber angemeldet sein.«
»Wir sind schon angemeldet.« Jule hatte jetzt lauter gesprochen.
»Ok, na gut«, sagte der Mann, drehte sich um und verschwand in der Wohnung. Sie guckten sich an. Jule zögerte kurz, folgte dem Mann dann aber doch durch den Flur.
»Hier kannst du schlafen. Such dir einen Platz aus.« Der Mann, der laut der Couchsurfing Seite Ingo heißen sollte, zeigte in ein Zimmer mit vollgestopften Regalen. In einer Ecke stand ein Sofa, in einer anderen ein Schreibtisch. »Das Bad ist gegenüber«, sagte der Mann. »Danke«, sagte sie, aber der Mann war schon wieder weg und die Musik wurde wieder lauter. Sie konnte endlich den Rucksack absetzen. Die ersten Schritte ohne fühlte sie sich so leicht, als würde sie gleich abheben.
»Wie es aussieht, müssen wir uns darum streiten, wer auf dem Boden schlafen darf«, sagte Laura und ließ ihren Rucksack auch auf den Boden fallen. Sie lachte: »Ich opfere mich und schlafe auf dem Sofa.«
»Sehr großzügig von dir!«
Sie zogen die Schuhe aus und wechselten ihre vollgeschwitzten Socken. Laura streckte sich auf dem Sofa aus und schlief sofort ein. Jetzt lässt du mich mit diesem komischen Typen alleine in der Wohnung, dachte Jule. Sie ging ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Da fiel ihr ein, dass sie kein Handtuch hatte. Neben dem Waschbecken hing eins. Sie bückte sich und trocknete ihre Hände an der alleräußersten Ecke ab. Ich bin hier zu Besuch, ohne, dass ich die Leute, die hier wohnen kenne, dachte sie. Der Mann hatte sich nicht mal vorgestellt. Und sie wusste auch nicht, ob sie durch die Wohnung laufen durfte. Sie hörte wieder die Musik aus einem der anderen Zimmer. Sie ging wieder zurück in das Zimmer, in dem sie schlafen durften. In einem Regal war ein leeres Aquarium mit einem paar Schuhe drin. Davor standen in einer Reihe ganz viele kleine Kakteen, mit aufgeklebten Wackelaugen.
Durch die Wand war jetzt noch ein anderes Geräusch zu hören. Ein Klappern. Sie schnallte ihre Isomatte von ihrem Rucksack ab und breitete sie aus. Es war erst Viertel nach sechs. Sie würden später nocheinmal loslaufen müssen, um etwas zu essen zu kaufen. Oder ihre Vorräte essen. Sie ging in den Flur zurück und versuchte herauszufinden, was dieses Klappern sein könnte. Sie ging bis zum Ende des Flures, dahin, wo das Klappern und die Musik am lautesten war und schaute vorsichtig um die Ecke. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihr und spülte Teller ab. Dabei bewegte er sich zur Musik. Sein Körper bewegte sich in Wellen, das Wasser spritzte und seine Füße stießen sich abwechselnd vom Boden ab, er schaukelte seinen Kopf, sodass seine Haare herum flogen und hin und wieder schwang er die Spülbürste wie einen Dirigentenstock hin und her. Auf einmal drehte er sich um. “Hey, was machst du da?!!”, rief er und kam mit der tropfenden Spülbürste auf sie zu. Gleich schlägt er mich, dachte Jule. “Tut mir leid!”, sagte sie und drehte sich um und ging, ja rannte fast den Flur zurück.
»Was ist denn los?«, fragte Laura. Jule fühlte sich, als ob sie den Mann bei etwas sehr privatem gestört hatte. Sie setzte sich zu Laura auf’s Sofa.
»Hallo? Darf ich kurz stören?« eine Frau stand plötzlich in der Tür. »Seid ihr die neuen Couchsurfer?«, sie lachte. »Haha ok, dumme Frage. Ich heiße Bettina. Willkommen! In zehn Minuten gibt es Abendessen. Ingo hat gekocht!«, sagte sie und verschwand wieder. Jule und Laura guckten sich an und versuchten, nicht laut loszulachen.
Beim Abendessen fragte Bettina sie über ihre Wanderung aus. Jule dachte, dass sie sehr nett war, nur ein bisschen zu viel redete. »Und dann ist uns das Zelt fast weggeflogen, sodass wir uns ...« »Das ist ja so spannend! Und wie lange seid ihr schon unterwegs?«
Ingo hörte ihnen gespannt zu, er lachte an den richtigen Stellen und hob die Augenbrauen, wenn es passte, aber er sagte den ganzen Abend kein einziges Wort. Abends tanzten Ingo und Bettina. Sie schoben sich über den Teppich und waren eins mit der Musik. Es war, als schienen sie nicht mehr zu bemerken, dass Laura und Jule daneben saßen.
Später, als Jule im Dunkeln auf ihrer Isomatte lag, dachte sie: Ich bin heute Abend Teil dieser verrückten Familie geworden, auch wenn ich in ihrem Leben kaum eine Rolle spiele.