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»Die alten Damen« von Leven Hennig

Die beiden alten Damen stehen vor dem Eingang der Altersresidenz und warten. Sie haben sich feingemacht, denn es geht heute in die Oper.

„Mal sehen wer uns heute fährt?“, überlegt eine der beiden. Die andere stützt sich neben ihr auf einen Spazierstock mit einem goldenen Ring knapp unter dem Knauf. Die Frage aus Richtung des verschwommenen Rollators bekommt sie nur als unverständliches Geräusch ins Ohr gestrudelt.

„Was?“, fragt die Stockabgestützte. „Mach dein Hörgerät an!“, flüstert die Verschwommene mit Rollator. „Wer spricht denn da, Brigitte oder Lilo?“, fragt sie in Richtung des Rollators.

Das da ein Rollator steht, weiß sie. Nach vier Jahren in der Altersresidenz, kann man einfach unterscheiden, ob es ein Rollator, ein Rollstuhl oder ein Elektromobil ist, was einem über den Fuß fährt. Und so kann sie auch ihre Freundinnen auseinander halten. Die Gisela im Rollstuhl, Brigitte und Lilo am Rollator, und Ingrid die allen den Fuß mit dem Elektromobil plattiert.

Sie braucht also keine Brille, um ihre Freundinnen zu erkennen. Außerdem, die Bühne in der Oper ist so weit weg, dass sie alles einigermaßen sehen kann. Brillen stehen ihr eh nicht, auch wenn sie im Moment gar nicht sehen kann, ob ihr überhaupt etwas steht, geschweige denn, ob sie irgendetwas an hat. Doch durch fühlen, spüren und schmecken ist sie bisher ganz gut durchs Alter gekommen. Trotzdem haben ihre Enkel Martin-Leonard und Marie-Maline zwischen einer Tasse Kaffee und einem Stück Schwarzwälder Kirschtorte ihr jetzt so ein neumodisches Hörgerät aufgequatscht. Nun ja, es hilft nun einmal auch besser zu hören. Zumindest behauptet das Brigitte, die jetzt der Fuß-Fahr-Logik zufolge neben ihr buckeln müsste.

„Brigitte?“, rät Christine, denn Lilo kann es nun wirklich nicht sein. Lilo hätte nicht ihren Fuß überfahren, Lilo hätte sie gleich frontal ins Blumenbeet geteckelt. „Ja, ich bin Brigitte. Mach dein Hörgerät an!“ Christine, die sich immer mit ihrem Gehstock auf den Füßen der anderen zu erkennen gibt, ist zufrieden. Es macht sie immer ein wenig stolz, wenn sie ihre Freundin richtig identifizieren kann. Trotzdem fasst sie sich jetzt ans Ohr, um ihr Hörgerät anzumachen. „Was meintest du denn eben? Ich habe das nicht so richtig verstanden“, fragt Christina. „Wer uns heute wohl hinfährt habe ich gefragt “ wiederholt Brigitte. „Der Drogenverkäufer oder der mit dem fleckigen Pullover?“ „Das letzte Mal war es ja unser südländischer Drogenhändler.“ „Dann müsste heute der fleckige Pullover dran sein“

Doch keiner von beiden kommt heute. Stattdessen sitzt jemand neues in dem roten Bus mit der weißen Aufschrift „Seniorenshuttle“. Mit quietschenden Reifen stoppt er vor dem Altersheim. Gangsterrap metzelt dumpf aus dem VW. Der Fahrer lässt ein Fenster herunter und lehnt sich mit dem Arm hinaus. „Ey“, ruft er. „Braucht ihr Support oder kommt ihr so rein?“

Die beiden Opernbesucherinnen gehen holprig auf das Shuttle zu. Der Jogginganzugträger dreht sich nach hinten greift am Sitz vorbei und macht die Schiebetür auf. Christina steigt zu erst in den Bus. Dann zieht sie den zusammengefalteten Rollator hinter sich in den Bus und Brigitte klettert hinterher. Eine lang geübte Prozedur. „Bin bisschen lost im fahren“, sagt der Fahrer, während er seine Adidas gestreifte Kapuze ein wenig lichtet, um die Straße zusehen. „Also nich wundern wenns mal hart ruckelt. Mach das ja auch noch nicht lange. Ich schwör’, mein Job vorher bei Mac Donalds, echt n’ Scheiß. Muke stört euch hoffentlich nicht, ne.“ Er lacht und würgt den Wagen ab, bevor er im zweiten Gang von der Einfahrt kachelt.

Aus den Boxen wummert der Gangsterrap laut und der Bass lässt die Sitze beben. „Digga, ich schwör“ sagt der Fahrer plötzlich „Der Bruder schießt auf ganz heftig!“ „Wer schießt?“, arlamt Brigitte. Sie klammert sich an Christina. „Wie meinen Sie das? Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“ Christina keift keuchend: „Bevor sie jetzt halten und sich an einer Schießerei anschließen und einem ihrer Brüder helfen, lassen sie uns sofort an der Straßenecke hier raus. Wir schaffen es alleine zur Oper“. Er macht die Musik leiser. „Hört ihr Schüsse? Da is keine Schießerei, vor allem, wie was’n fürn Bruder?“ „Sie sagten gerade: Wow, oder so, der Bruder schießt.“ „Ach so, der äh… Sänger is halt krass. Der macht den Typen über den er singt absolut fertig. Und dann sagt man, der schießt. Da draußen schießt keiner.“ Brigitte lehnt sich wieder ans Fenster Sie kichert und schüttelt ihre weiße Dauerwelle.

„Das ist aber auch was“, sagt Christina sich auf aufrichtend „wenn man seine eigene Sprache nicht mehr versteht.“ „Früher war das noch einfach. Wenn uns was gefiel sagten wir flott, wonnig oder dufte. Wenn nicht war das undufte, abgelaufen oder vergammelt. Männer nannten wir Heini, Armleuchter oder Trottel und Mädchen Biene, steiler Zahn oder Mieze. Das hat damals jeder verstanden.“ „Ja“, ergänzt Christina, „wenn man jemanden umwarb, nannten wir das anschwirren, anbohren oder backfischen.“„Und wenn wir feierten machten wir eine Sause, Schmeiße oder gingen auf einen Jubeltrubel“, lacht Brigitte.

„Na, Brigitte war die Schmeiße gestern knorke? So ne famose Sause hab ich lang nicht mehr gehabt. Aber Walter, der wonnige Armleuchter, hat sich natürlich nen anderen flotten Besen gebackfischt“, äfft sich Christina nach.
„Wäaas?“, kommt es vom Jogginganzug auf dem Vordersitz. „Ja“, sagt Brigitte „so haben wir früher gesprochen.“ „Okay“, murmelt der Fahrer. Dann strafft er sich. „Lass mal mixen“ sagt er. „Walter du Hurensohn, Sause war gestern dufte? Hast dir nen steilen Zahn geklärt? Ich schwör’ dir Laffe, die Snitch, die ich backfischen wollte, einfach ehrenlos, die hat sich einfach nen anderen Macker gesnacked.“

Später: Die beiden sitzen in der Oper. Einer der Sänger schmettert in den Saal: „…oh höchste Not, sehnende Liebe, sehrende Not, brennt mir hell in der Brust, drängt zu Tat und Tod…!“„Der schießt aber flott“, flüstert Brigitte mit steifem Oberkörper sich zu Christina beugend.

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