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»Das Labyrinth« von Marian Bansmann

Meine Welt besteht vor allem aus sechsundzwanzig Zeichen, die mir in den unterschiedlichsten Kombinationen begegnen, damit ich sie entschlüssle; gelingt mir das nicht, werde ich mein Lebtag im Labyrinth gefangen bleiben. Mir steigt ein Geruch von Papier, Moder und Chemikalien in die Nase, der je nach Untersuchungsgegenstand variiert. Eine laute Stimme schreckt mich aus meinen Gedanken.
„Wo finde ich Borges?“
Ich schaue hoch: Vor mir steht eine junge Frau, von etwa vierzig Jahren; ihr Gesicht ist noch nicht runzelig, bis auf eine sich deutlich abzeichnende Zornesfalte.
„Borges ist überall“, sage ich und denke an das Labyrinth, das mich tagein, tagaus umschließt, mich niemals freigibt, mein Denken bestimmt und jegliche mir verbleibende Lebensenergie in Anspruch nimmt.
„Ich suche seinen Erzählband. Die Fiktionen.“
„Zweite Etage, Belletristik-Abteilung unter B.“
Die Zornesfalte an ihrer Stirn kneift sich zusammen und die kleine Rinne vertieft sich; wenn ich dazwischen eine Buchseite legte, würde diese von dem Druck der Haut festgehalten werden.


„Zweite Etage“, wiederhole ich.
„Da war ich schon und ihre Kollegin hat mich an Sie verwiesen. Meinen Sie ich würde einfach so in dieses Kellerloch gehen!?“
„Es ist ein Ort der Bücher und die sind heilig.“
„Ich suche die Fiktionen von Borges. Gibt es noch ein Exemplar oder nicht?“
„Suchen Sie selbst. So funktioniert das hier.“
„Das muss doch katalogisiert sein; sagen Sie mir einfach, ob es noch da ist oder nicht.“
„Nein.“
„Nein, was? Dass Sie es mir nicht sagen wollen? Oder dass es nicht mehr da ist?“
Ich sage nichts mehr und wende mich wieder meinem Buch zu.
„Flohmärkte konnte ich noch nie leiden: Und einen Bücherflohmarkt schon mal gar nicht! Ich kann nicht glauben …“
Doch schon verwandeln sich ihre Sätze in ein Murmeln – ich habe mein Hörgerät ausgestellt. Konzentriert vertiefe ich mich erneut in die Geschichte; es ist: Die Bibliothek von Babel.

Das Labyrinth, aus dem ich zu entfliehen gedenke, wird immer undurchdringlicher. Manchmal kommt es mir so vor, dass ich den Minotaurus bald finde, manchmal als sei ich selbst der Minotaurus: unersättlich auf der Suche. Solange ich atme, wird mein Geist auf bekannten und unbekannten Pfaden wandern.

Ich vertiefe mich weiter in die unendliche Bibliothek und verliere mich in der Idee, dass alles, was jemals gedacht, jemals erfunden werden kann, schon in den Büchern mit den sechsundzwanzig Zeichen zu finden ist. Ich stelle mir vor, ich sei auch in einem sechseckigen Raum, der zwei Durchgänge hat und mit Bücherregalen an den übrigen vier Wänden ausgestattet ist. In Gedanken führe ich Gespräche mit dem Bibliothekar der Bibliothek von Babel.
„Es gibt keinen Ausgang. Das Labyrinth ist zyklisch“, sagt er.

Ich fühle das Tippen auf meiner Schulter. Die Frau ist noch immer da. Ärgerlich schalte ich mein Hörgerät wieder ein.
Sie sagt: „Was fällt ihnen ein? Wenn Sie mir schon nicht weiterhelfen wollen, so dürfen Sie doch nicht unverschämt werden, Sie Schuft!“ Dabei schaut sie auf mein Buch, das offen vor mir liegt.
„Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern? An den arroganten und selbstverliebten Arne-Sayles!“
Damit stürmt sie hinaus in Richtung der Treppe. Ich schaue ihr nur kurz nach; schon notiere ich mir den Namen Arne-Sayles, der mich wage an ein Buch erinnert.

In seinem Werk, das „The half-seen Door“ heißt und 1979 veröffentlicht wurde (ich habe es bei uns in der Bibliothek gefunden), stellt Arne-Sayles die These auf, dass eine Parallelwelt existiere, die als Aufbewahrungsort für altes, vergessenes Wissen entstanden sei – und er erwähnt ein Ritual, um diese Welt zu betreten. Es beinhaltet, zu dem Ort zurückzukehren, an dem die Rationalität noch nicht Besitz von uns ergriffen hat; er beschreibt dafür den Garten, in dem er als Kind spielte. Das muss der Schlüssel sein, der Schlüssel aus meinem Labyrinth.

Vor meinem geistigen Auge taucht ein Bild von einem sehr viel jüngerem Ich mit einem Buch in der Hand auf; schon als kleiner Junge gab es nichts Besseres, als sich in einer fiktiven Welt zu verlieren und sie zu erkunden. Oft hatte ich das Gefühl, dass die Ereignisse im Buch realer als mein eigenes Leben waren. Beim Lesen spielte die Realität keine Rolle, die Geschichte war das Einzige, was zählte. Mit diesem Gedanken, verschwimmt meine Wirklichkeit und vor mir taucht ein
orangenes Licht auf: Es strahlt auf eine Tür, die von Schatten umrandet ist. Ich bin dem Labyrinth des Lebens entkommen. Ganz fest drücke ich das Buch von Arne-Sayles an meine Brust – das niemals existierte.

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