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»Acht Jahre« von Kathrine Rüdiger

Dein Name wurde aufgerufen. Du standest auf, strichst dein Kleid ein wenig glatt und machtest dich auf den Weg zur Bühne. Es war ein wichtiger Tag in deinem Leben. Der Tag, an dem du dein Abiturzeugnis bekamst. Es ließ sich
nicht vermeiden, dass du ein Grinsen auf deinem Gesicht trugst und keiner erwartete es von dir. Es war an sich keine große Sache, dass du auf die Bühne kamst, viele andere taten das vor und nach dir auch. Ein paar Worte
von dem einen, ein paar von dem anderen, ein paar warme Händedrücke und dein Abiturzeugnis. Dann stelltest du dich bei den anderen auf der Bühne auf und der Nächste wurde aufgerufen. In den Reihen entdecktest du
deine stolzen Eltern.
Ein wenig traurig fandest du es schon. Eine Schule, die du für acht Jahre besucht hattest. Eine Schule, an der du schöne und nicht so schöne Erfahrungen gesammelt hast. Aber all diese Erfahrungen sind wertvoll, du hast sie hier an dieser Schule gemacht, hier mit den Menschen, die dich dein halbes Leben bis jetzt begleitet haben. Und du möchtest diese Erfahrungen und Erinnerungen für Nichts in der Welt umtauschen. Denn woanders, wann anders und mit jemanden anderen hättest du nicht die Gleichen machen können.


Inzwischen wurden die letzten Namen aufgerufen. Seit etwa 30 Namen standest du und deine Mitschüler, einige länger, andere kürzer, auf der Bühne. Eure Eltern und Verwandte saßen in der großen Halle und man konnte verschiedene Emotionen von ihren Gesichtern ablesen: Stolz, Freude, aber auch ein wenig Traurigkeit, dass ihre Kinder schon so groß waren. Dir ging es auch nicht viel anders. Viele dieser Menschen würdest du nie wiedersehen. Das dachtest du damals. Das dachtet ihr wahrscheinlich alle damals. Aber ihr, habt euch geirrt. Denn alles sollte anders kommen, als du es dir vorgestellt hattest. Damals, als du dich wieder auf deinen Platz neben deiner Mutter und irgendeinem anderen Menschen in der sechsten Reihe von hinten auf der rechten Seite auf dem dritten Platz von rechts setztest. Damals, als du noch nicht wusstest, was das Leben für dich bringen würde. Damals, als du noch nicht wusstest, wie sehr du unrecht mit Vielem hattest. Damals, an einem Tag, der noch gar nicht so lange her ist, wie es uns jetzt scheint. An einem Tag, der jetzt etwa genauso lange her ist, wie es deine Einschulung zum Gymnasium war, als du dein Abitur gemacht hattest.
Damals.

Acht Jahre später:

“Warum hab ich nochmal gesagt, dass ich dahin gehe?”, rufst du quer durch die Wohnung.
“Weil du es dir vor Jahren geschworen hast. Du hast gesagt: Wenn es eines Tages stattfindet, werde ich hingehen, egal wie weit es weg ist”, ruft deine Mitbewohnerin zurück. Ihr seid beide auf der Suche nach deinem Abiturpullover, ein Pullover, den ihr alle zum Abitur bekommen habt und den du unbedingt heute anziehen möchtest.
“Hier ist er”, sagt Laura, deine Mitbewohnerin, als sie zu dir ins Zimmer kommt. “War nicht so schwer, er war ganz hinten in deinem Schrank.”
Sie drückt dir den Pulli in die Hand und macht auf dem Absatz kehrt.
“Danke, Laura”, sagst du leise.
“Schon gut. Aber beeile dich jetzt mal. Ach, ich komme mir schon vor, wie eine Mutter, die ihr Kind in die Schule schickt”

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Es ist ein grauer Herbsttag und du gehst zum Bäcker, bevor du dich weiter auf den Weg machst. Du hast deinen Abipulli an, den du sehr gerne trägst. Deshalb bist du auch immer noch ein wenig verwundert, weshalb er am Morgen so schwer zu finden war.
“Ein Croissant und einen Kaffee mit ein wenig Milch, bitte”, sagst du zu der ziemlich kleinen Frau mit Schürze hinter dem Tresen. Sie nickt kurz und macht sich daran, den Kaffee zu machen. Sie ist noch sehr müde. Bis eben warst du auch noch müde. Doch die Aussicht auf einen Kaffee und ein Croissant macht dich schon wacher. Du zahlst und gehst zur Bahn. Es ist noch relativ früh am Morgen und das ist dein Glück, so bekommst du einen schönen Sitzplatz. Die Sonne scheint schon etwas durch das Fenster. Du lehnst dich an und entspannst ein wenig, die Bahnfahrt wird einige Zeit dauern.
Es ist ein Samstagmorgen im Oktober und du bist auf dem Weg zu deinem ersten Jahrgangstreffen, seitdem ihr alle die Schule verlassen habt. Vor sechzehn Jahren kamt ihr ans Gymnasium, vor acht Jahren habt ihr Abitur gemacht. Und seit acht Jahren hast du niemanden aus deiner Schulzeit mehr gesehen. Nur Laura, deine Mitbewohnerin. Und selbst sie ging nicht in deinen Jahrgang, sondern war einen über dir. Du hast sie durch deinen Bruder kennengelernt, aber was erzähle ich dir das? Du weißt das alles. Du hast das Wenigste vergessen, was damals passiert ist. Du weißt wahrscheinlich mehr als ich. Und ich habe schon sehr viel mit dir zusammen erlebt. Und ich weiß auch, dass du dich sehr darauf freust, dorthin zu kommen, auch wenn das heißt, dass du heute Morgen früh aufstehen musstest. Du bist ein Mensch, der sich gerne an das zurückerinnert, was früher mal normal war. Und mit “früher” meine ich die Zeit, in der du und alle anderen, die du kennst, noch zur Schule gingen.
Die Bahn verlässt die Stadt und fährt an Feldern und Wiesen vorbei. Besonders schnell seid ihr nicht, aber das macht dir nichts. Du weißt, dass du ankommst und das ist das Wichtigste. Du siehst viele Rehe und zwei Hasen. Dann stehen da Pferde und Kühe. Du kennst das. Schon so manches Mal hast du diese Bahn genommen. Weit und schnell fährt sie nicht, aber das, was sie leistet, genügt dir, um dorthin zu kommen, wo du hinwillst: in die Nachbarstadt, wo deine Schule steht.
Kaum bist du angekommen, gehst du deinen von früher noch wohlbekannten Schulweg. Aus dem Bahnhofsgebäude, rechts abbiegen, die Straße ein gutes Stück geradeaus, dann die Straße überqueren, links in eine Einbahnstraße rein. Sie ist schmal und kopfsteingepflastert; du magst sie sehr gerne. Die Häuser stehen nah beieinander. Du bleibst stehen. An einer Stelle sind zwei Balkonen direkt gegenüber, man kann auf ihnen stehen und sich mit seinem Nachbarn von Gegenüber unterhalten. Eine aus deiner Klasse wohnte dort bei einem der Balkone. Manchmal wart ihr eine ziemlich große Gruppe Mädchen, die die Nachmittage dort verbracht hat. Ihr habt ein langes Seil an dem Balkon befestigt, das ihr wie eine Schaukel genutzt habt. Die Mutter des Mädchens hat aber schon bald gesagt, dass ihr das besser lassen solltet, das sei gefährlich. Ihr wolltet das nicht glauben, habt geschmollt. Jahre später, wenn ihr mal in einer Ecke des Schulhofes gesessen habt, dachtet ihr daran zurück. Ihr dachtet euch, wie recht die Mutter doch gehabt hatte, wie töricht ihr gewesen wart. Aber ihr hattet euren Spaß und das war vielleicht nicht das Wichtigste, aber doch schon ziemlich wichtig. Und heute solltest du sie alle wiedersehen. Du nimmst deine Schritte wieder auf, biegst an der Straßenecke rechts ab und dann gleich wieder links. Auf der linken Straßenseite steht das Rathaus, das du früher nie als solches erkannt hast. Dann kommst du am Bäcker vorbei, bei dem du dir auf dem Schulweg, wenn noch Zeit war, was zu essen für die Pause geholt hast. Direkt neben dem Bäcker steht eine große Kastanie. Du hast Kastanien geliebt, du tust es noch heute. Wir haben sie früher immer gesammelt. Und neben der Kastanie ist das Schultor.
Die Schule und der Schulhof sind nicht klein, denn die Schule ist weit und breit die Einzige. Schüler aus vielen umliegenden kleinen Städten kommen hierher, um zu lernen. Für einen Moment bleibst du stehen und betrachtest das Gebäude, das vor dir steht. Das Gebäude, dass du seit acht Jahren nicht gesehen hast. Viele Erinnerungen steigen in dir hoch, doch bevor du dich in ihnen verlieren kannst, betrittst du das Gelände. Sobald du um die erste Ecke biegst, siehst du die vielen Menschen, die gekommen sind. Und du erkennst auf den ersten Blick so viele wieder. Es kostet dir eine Menge Willenskraft, nicht ein wenig zu weinen, so glücklich bist du in diesem Moment. Du siehst, dass noch letzte Vorbereitungen getroffen werden und du bietest deine Hilfe an. So warst du schon immer. Helfen, wo du konntest.
Zusammen mit einem Mann, der früher in deine Parallelklasse gegangen war, trägst du einige Tische in die Große Halle. Jene Halle, in der du vor acht Jahren dein Abizeugnis bekommen hast. Doch gerade als du wieder in einen
der Klassenräume gehen willst, um einen weiteren Tisch zu holen, siehst du eine kleine Frau alleine an der Seite stehen und du bleibst sofort auch stehen. Denn diese kleine Frau kennst du noch zu gut. Lange bleibst du jedoch nicht stehen, schon nach wenigen Sekunden rennst du fast auf sie zu. Du kannst dir nicht helfen, du umarmst deine beste Freundin von damals einfach - ohne Vorwarnung für sie. Du merkst, dass sie ein wenig überrumpelt ist, doch sobald sie sich erstmal von dem Schrecken erholt und dich erkannt hat, umarmt sie dich mindestens genauso fest.
Acht Jahre habt ihr euch nicht gesehen. Für ein paar Momente bleibt ihr einfach so da stehen, fest umarmt, und sagt nichts. Dann seht ihr euch für eine Weile nur an, ihr könnt nicht glauben, dass ihr euch tatsächlich endlich wiederseht.
“Jana! Du bist es wirklich!”, ruft deine Freundin. Sie klingt nicht mehr wie
früher. Kein Wunder. Sie wohnt seit Jahren in den Staaten. Das ist auch der Grund, weshalb wir uns ewig nicht gesehen haben.
“Ja, ich bin es, Alina! Gott, es ist so schön, dich wiederzusehen, warum hast du mir denn nicht gesagt, dass du kommst?”
“Ich wusste es bis vor Kurzem ja auch nicht, die Einladung hierfür hat mich ziemlich spät erreicht. Und dann wollte ich dich überraschen.”
“Das ist dir gelungen, auf jeden Fall! Hey, lass uns weiterreden, während wir weiter aufbauen, okay?”
Und damit macht ihr euch auf den Weg, die restlichen Tische weiter aufzubauen.

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Nach einem zehn Stunden Treffen seid ihr alle sehr müde und sehr glücklich. Ihr habt alle mit so ziemlich jedem über eure Leben der letzten Jahre geredet und eine Menge erfahren. Einige haben Familien gegründet, anderen wohnen alleine oder mit einer Mitbewohnerin oder Mitbewohner wie du. Und du hast keinen getroffen, der wirklich unzufrieden mit seinem Leben war. Aber vielleicht waren die, denen es so geht, auch einfach nicht gekommen.
Nach gemeinsamen Abbauen macht ihr euch nun alle auf den Weg zu euren Unterkünften. Einige wohnen nachwievor dort in der Nähe, so wie du. Andere, wie deine Freundin Alina, wohnen sehr weit weg und haben sich Hotelzimmer genommen. Weil Alina sehr spontan angereist kam, hat sie kein Unterkunft vorgebucht und möchte sich nun auf die Suche nach einer machen. Als du dies erfahren hast, hast du sie sofort zu dir eingeladen. Du weißt, dass Laura nichts gegen spontane Besuche hat.
Du schließt deine Wohnungstür auf und lässt Alina samt Reisetasche eintreten.
“Hallo”, hörst du Laura überrascht, aber freundlich sagen, als du die Tür hinter dir schließt.
“Hallo, schön, Sie kennenzulernen. Wohnen Sie mit Jana zusammen?”, antwortet Alina.
“Ja, genau die bin ich, Laura. Und wer sind Sie?”
“Alina. Ich bin mit Jana zur Schule gegangen.”
“Ach Jana, hätte ich mir denken können, dass du jemanden mitbringst. Naja, mach’s dir gemütlich, du bist jetzt hier zuhause.”
Und damit verschwindet Laura wieder in ihrem Zimmer. Und ihr in deinem. Als du dich am Morgen auf den Weg gemacht hattest, hast du nicht damit gerechnet, am Abend schon wieder Besuch zu haben. Dementsprechend sieht dein Zimmer auch aus. Deine Bettdecke liegt halb auf dem Bett, halb auf dem Fußboden, überall Kleidung und auf dem Boden liegt ein zerknülltes Physikheft. Komisch, du bist doch seit acht Jahren mit der Schule fertig. Du versuchst so viel wie möglich so schnell wie möglich so unauffällig wie möglich aufzuräumen, doch was du nicht merkst, ist, dass Alina das alles nicht stört. Sie sieht sich sehr aufmerksam im Zimmer um.
“Das ist eines der schönsten Zimmer, die ich je gesehen habe”, sagt sie und klingt dabei so ehrlich, wie du noch nie jemanden sprechen gehört hast. Für einen Moment guckst du sie einfach nur an, dann lächelst du.

Du liegst schon in deinem Bett, als Alina ins Zimmer kommt, um sich auf die Matratze zu legen, die neben deinem Bett liegt. Doch plötzlich bleibt sie stehen und deutet auf ein Bild an der Wand. “Wer ist das denn?”
Ich kenne das Bild nur zu gut. Ich mag es sehr gerne und sehe es mir sehr gerne an. Es zeigt zwei vierzehnjährige Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die einfach nur auf einem Ast eines wunderschönen Baumes sitzen. Sie sitzen einfach nur da und unterhalten sich. Es ist Sommer, die Sonne geht aber schon unter. Das Foto wurde vom Haus, auf dessen Grundstück der Baum stand, aus aufgenommen, die Kinder merken es jedoch nicht. Sie sind zu sehr in ihrem Gespräch vertieft. Du hast noch immer nicht geantwortet, du bist in eine Starre verfallen.
“Jana?”
Schließlich räusperst du dich. “Das rechts bin ich und das links war mein bester Freund Simon. Er ist nach der Grundschule mit seinen Eltern weggezogen, deshalb kennst du ihn nicht… Falls du dich gewundert hast.”
“War dein bester Freund?”
“Simon ist vor fünf Jahren gestorben.”
Zum ersten Mal höre ich diese Worte. Und sie treffen mich härter, als es die Wahrheit, die ich nur zu gut kenne, tun sollte. Es stimmt, das rechts ist Jana und das links ist Simon.
Und Simon bin ich.

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