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»Die Katze vom Nachbarn fangen« von Clara Paulick

Mittagspause. Verdammt! Ich schmeiße einen Stein. Platsch. Ich lehne mich über das Brückengeländer und starre nach unten. Den Stein kann ich nicht mehr sehen. Ich lasse meine Arme und meinen Kopf nach unten hängen. Pendeln. Mein Kopf wiegt jetzt doppelt so viel. Gleich platzt er. Ich versuche mit meinen Zehen Moos von der Brücke zu kratzen. Unter dem Moos ist der Beton richtig hell. Ich bücke mich und fahre mit meinem Finger den Fleck nach. Mein Blick verschwimmt. Ist jetzt dieser oder dieser Moosfleck der echte? Es ist heiß. Meine Kniekehlen sind nass. Ich stehe auf und gehe in den Schatten. Das Gras hier ist lang. Ich versuche einen Grashüpfer zu sehen. Aber einen grünen großen, keinen von diesen braunen Babys. Letztes Jahr hatte Mama mir im Sommer fast jeden Tag Zauberwasser gemacht. Ich lag dann mit ihr in der Hängematte, an ihren dicken Bauch gekuschelt. Mit meinem Zauberwasser und manchmal ein paar Keksen. Eine kleine Schwester hatte sie immer wieder gesagt. Ja eine kleine Schwester haben war toll.

Ich könnte ihr mein Baumhaus zeigen, sie würde auf der Schaukel sitzen und ich würde ihr Anschwung geben. Sie hätte blonde Locken, wie ich, und die würden in der Sonne golden leuchten. Sie würde lachen und “Höher! Höher!”, rufen. Ich würde mit ihr Johannisbeeren pflücken und schwimmen gehen, wir würden zusammen hier an der Brücke sitzen und ein Floß bauen oder die Katze vom Nachbarn fangen. Sie würde an meiner Hand sein und mich große Schwester nennen.
Genau das dachte ich. Letztes Jahr.

Ich lege mich auf den Rücken. Ein Grashalm in meinem Mundwinkel. Das ist cool, hat Amelie gestern gesagt. Es schmeckt süß. Aber nicht so wie Zauberwasser. Ich atme aus. Es gab lange kein Zauberwasser mehr. Und auch kein Kuscheln mit Mama in der Hängematte. Ich finde, Tilda ist ein doofer Name. Ich pule an meinem Fingernagel und spucke den Grashalm aus. Man braucht nicht cool sein, wenn man alleine ist, so wie ich. Meine Hand riecht scharf und eklig nach diesem Desinfektionsmittel. Ich nehme einen Stein und schleudere ihn gegen den Baum. Er springt zurück und knallt fast gegen meinen Kopf. Mama war weg gegangen und Papa hatte gesagt, sie kommt bald wieder und bringt endlich meine kleine Schwester mit. Ich habe meinen Teddy in das neue Kinderzimmer getan. Ich war ja bald die große Schwester. Ich habe mit Opa gewartet. Wir haben eine Höhle unter meinem Bett gebaut und Opa hat immer auf die Uhr geguckt. Wir haben elf Runden Memory gespielt, und Opa hat immer auf die Uhr geguckt. Da fuhr das Auto auf die Auffahrt. Ich riss die Terrassentür auf.
“Mama, Papa! Wo ist meine Schwester?” ich rannte den Weg entlang.
“Pscht! Leise!”, zischt Papa. Ich blieb sofort stehen. “Du weckst sie sonst auf!”
“Wo ist sie?” Mama hatte eine zusammengeknüllte Decke in ihrer Hand und beugte sich zu mir runter.
“Hier. Hast du schonmal so etwas süßes gesehen?” Sie strahlte mich an. Ich
schaute in das Bündel. Lila. Warum war das Baby lila? Voll faltige Hände. Ich dachte
an meinen Teddy. Später würde ich ihn wieder aus dem Kinderzimmer nehmen.
Ich stopfe Sandkörner in ein Ameisenloch. Die Ameisen rennen im Zickzack. Ich
begrabe sie unter Sand und beobachte, wie sie sich daraus freikämpfen. Wenn sie
aus dem Sand kriechen sind sie nicht mehr schwarz, sondern hell und staubig. Sie
strampeln mit ihren Beinen und ich werfe immer wieder neuen Sand auf sie.
“Melina?”, ruft Mama.
“Nein!” Ich presse meine Stirn auf den Boden.
“Mimi Schatz, wo bist du?”
“Ich bin weg!!!”, schreie ich.
“Oh, dass ist aber schade!”, ruft sie, “Tilda und ich vermissen dich schon.”
“Das stimmt nicht!!!” mein Hals tut weh vom Schreien. Tränen laufen über mein Gesicht. Ich höre, dass auch Tilda weint. Jetzt lässt Mama mich bestimmt in Ruhe. Sie muss ja Tilda trösten. Wie immer. Ich rupfe Gras mit ganz viel Erde raus und werfe es gegen den Baum. Mein Hals tut immernoch weh. Ich lege meinen Kopf auf die Arme. Tilda heult immer noch. Immer dieses Heulen! Meine Augen brennen.
“Mimi.” Mamas Stimme ist jetzt sanft neben meinem Ohr. Ich drücke mein Gesicht weiter auf meine Arme. Mama legt sich neben mich.
“Mimi”, flüstert sie. Ich schniefe. Mama drückt sich ganz nah an mich.

Später sitzen wir alle im Garten. Mit Zauberwasser. Tilda auf meinem Schoß. Und
lacht.

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