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1. Juni 2016 / Frühjahrskurs 2016
von Daniel Trommer

Meine ersten Nachbarn waren meine Großeltern. Meine einzigen Großeltern. Die anderen waren schon tot. Die Nachbarn-Großeltern sind jetzt auch tot. Alle tot. Das heißt: Keine Geschichten mehr von der Flucht „schwarz über die grüne Grenze“. Die hatte Opa, weißer Latz um den Hals, die weißen Haare sorgsam nach hinten gekämmt, immer den nächsten Predigtdienst und die nächste All-inclusive-Rentnerreise im Kopf, bei jeder Gelegenheit erzählt. Das heißt auch: Keine Geschenke mehr zu Weihnachten und Geburtstag. Ich Pechvogel. Wobei, viel gab’s da eh nie zu holen. Ein Predigerehepaar in der Rente das noch ein Haus gebaut hat und ständig in die ganze Welt in Urlaub fährt – woher soll da Geld kommen? Aber beim Mittagessen wurden wir von Oma, beste Oma, liebste Oma, süßeste Oma, vor allem wenn sie „Salat“ sächsisch aussprach, mit zwei kurzen A’s, als würde man das Wort „Sallatt“ schreiben und vor allem wenn sie dazu so verschmitzt lachte, wurden wir beim Mittagessen also immer zum Nachschlag genötigt. Immerhin. Ach Geschichten, Geschenke, alles blablabla, die Ruhe jetzt sei ihnen vergönnt.

Beim Studium gab’s Nachbarn, die wohnten auf der anderen Seite der engen Gasse, Fenster in der gleichen Höhe, wunderbar zum reingucken. Sich da umzuziehen, auszuziehen und keinen Rollo runter zu machen: aufregend, dieses Wissen, beobachtet werden zu können. Eines Tages, auf der anderen Seite, plötzlich nackte Körper. Nackte Körper in Bewegung, in intensiver Bewegung. Der Winkel ist leider etwas schlecht, ich kann nur Teile sehen, ein Hintern, der sich vor und zurückbewegt. Dazu kein Ton. Nicht hingucken wollen, sollen, doch nicht weggucken können. Der stille Genuss des Spions, des unentdeckten Beobachters. Dann plötzlich, ein Blick, vier Augen treffen sich, vier Augen erschrecken, ihre Brüste hüpfen, ich drehe mich schnell weg, ertappt, Scham, das Rollo geht runter. Schade. Ausgesperrt. Ein bisschen betrogen fühle ich mich. Gerade waren wir doch noch drei, friedlich beisammen, ein paar Blicke, das war doch schön. Was die wohl jetzt von mir denken? Ob die später zum Klingelschild laufen, die Namen studieren, darauf zeigen, den Kopf schütteln, sich anblicken und sagen: „Da wohnt es, das Schwein!“?

Das mit dem Nacktsein, dem Reingucken und den Nachbarn ist ein Thema, das sich durchzieht. Heute wohnt ein kleines Teenie-Mädchen gegenüber. Sie guckt gerne zu uns rüber. Woher wir das wissen? Na weil wir auch rübergucken, natürlich nur um zu gucken, ob sie schon wieder guckt. Ich mein, das ist ein kleines Teeniemädel. Was sollen wir da gucken wollen. Die sitzt da halt und macht Hausaufgaben. Oder starrt aus dem Fenster. Oder turnt radschlagend durchs Zimmer. Normale Teeniesachen halt. Das interessiert mich nicht. Außer so als Nachbar. Und das ist doch, was Nachbarn machen: gucken. Dafür sind sie doch da. Um nie zu vergessen, dass da noch ein Anderer ist. Damit man weiß, dass einen einer beobachtet. Dass da einer ist, der eine Meinung hat, ein Urteil fällt. Der Nachbar hält dich wach, lässt dich den Rasen mähen, die Fenster putzen, den Balkon schöner schmücken. Der Nachbar macht erst, dass mein Leben schön sein kann. Weil ich mein, sonst würde ich ja nix machen. Das würde alles zumüllen, einfetten, kaputtrosten. Aber für den Fall, dass der Nachbar vorbeikommt, dass der ne Milch braucht oder einfach mal nur auf der Türschwelle stehen will, weil wir halt Nachbarn sind, ja da muss ich den doch auch reinbitten können. Da muss ich dem doch zeigen können, wie geil es bei mir aussieht und dass er gefälligst gleich nach Hause gehen soll und sich mal Gedanken über sein mickriges kleines Scheißleben machen soll. Also, wie gesagt, gucken, dafür sind Nachbarn da. Also jetzt aber nicht das Teeniemädel. Dem müssen wir nichts beweisen. Höchstens was beibringen, Aufklärung oder so. Und natürlich zu ihr gucken, damit sie das Aufgaben machen und das Aufräumen nicht vergisst. Ein wichtiger Dienst. Die Eltern sollten uns dankbar sein. Ohne uns, wäre ihre Erziehung ein jämmerlicher Haufen Dreckwäsche. Oder geht das zu weit? Ich glaub, ich mach das Rollo runter.

27. Mai 2016 / Frühjahrskurs 2016
von Sara Hanfler

Sie stapft und stampft und trampelt. Sie kreischt und stöhnt und lacht.

Sie ist ein Erdbeben, das an ihrer Zimmerdecke, die mein Fußboden ist, rüttelt und mich aus dem Bett schmeißt.

Sie verschiebt Möbel und patrolliert nachts ihre Wohnung; wie ein Zirkustier im Käfig ist sie immer wachsam, immer angespannt, immer auf einen Moment pochend, in dem die Aussicht auf Flucht besteht.

Tagsüber findet sie augenscheinlich Ruhe. Doch diese ist trügerisch; von der Sorte, wie sie vor einem Sturm einkehrt, wenn die Landschaft den Atem anhält. Denn zwar schweigen die weiß-roten Porzellanbären, die sich in verschiedenen Posen auf ihrem Fenstersims räkeln. Dennoch hat man, wenn man im Treppenhaus an ihrer Tür vorbeigeht, immer das Brennen eines misstrauischen Auges durch den Spion im Nacken.

Sie ist ein wildes Tier in einer Holzkiste.

Sie nagt und kratzt an den erstickend engen Wänden ihres Gefängnisses. Und sie schreit.

Anfangs schrie sie ihren Mann an; mittlerweile schreit sie nur noch der Leere in ihrer Wohnung entgegen.

Wenn man an ihrer Tür klingelt und sie bittet, ein wenig leiser zu wüten, sagt sie einem, man solle doch die Polizei rufen, wenn's einen störe. Es sei ihr egal.

Das Schreien ist ein Ritual. Ein letzter Akt des Aufbegehrens gegen den sich vor ihr aufbäumenden Koloss aus Zeit und Langeweile.

Das Schreien frisst sich wie glühend heißes Metall durch das teigige, leblose Fleisch ihres Alltags.

Sie schreit von zwölf Uhr nachts bis fünf Uhr morgens. Dann geht sie schlafen.

Und dann beginnt's von vorn.

16. Mai 2016 / Frühjahrskurs 2016
von Bernadette Schlaffner

18. Mai 2016 | Hamburg

Als ich gerade meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehe, die Augen vom Monitor abwenden und aus dem Fenster in die Ferne starren, bemerke ich eine Gruppe von vier zehn- bis zwölfjährigen Jungs unten an den Müllcontainern. Sie lachen, lassen einen Fußball zwischen den Containern hin und her springen. Glas. Hausmüll. Papier. Wertstoff. Bioabfall. Einer von den Jungs leert einen Karton in den Glascontainer.

Ich frage mich gerade, wieso das scheppernde Geräusch ausbleibt, Glas ist nicht gleich Glas, Fensterglas ist Restmüll, als sich die Jungs plötzlich erschrocken zum Haus wenden. Zur Tür nebenan. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Nachbarin, die Arme in die Hüften gestemmt, einen ernsten Blick im Gesicht. Glas ist nicht gleich Glas. Aber es scheppert. Das Recycling von Altglas spart sechzig Prozent an Energie gegenüber der Neuproduktion aus Primärrohstoffen. So sehr ich mich auch verbiege und aus dem Fenster um die Ecke zu linsen versuche, ich sehe die Nachbarin nicht. Seltsamerweise höre ich sie auch nicht. Doch ich spüre ihre Anwesenheit. Die Blicke der Jungs. Der Knabe am Glascontainer lässt verwirrt den Karton los, in das schwarze Loch fallen. Auch diesmal kein Scheppern.

„Nein!“, ruft einer seiner Kumpels, so interpretiere ich zumindest seinen Gesichtsausdruck. Der Junge hüpft zu seinem Kompagnon und reißt ihm den zweiten, leeren, Karton aus der Hand. Der Junge mit dem Fußball steigt auf das Treppengeländer, schaut in den Schlund des Containers, ratlos, hilflos, überlegt kurz hineinzugreifen, hineinzuklettern. Das Recycling von Altpapier spart ein Drittel an Energie gegenüber einer Neuproduktion. Währenddessen landet der zweite Karton nebenan im Hausmüll. Im selben Moment begreifen sie den Fehler. Das Recycling von einer Tonne Altpapier spart eineinhalb Tonnen Kohlenstoffmonoxid gegenüber dem Verbrennen im Restmüll.

Erschrocken wandern die Blicke der Jungs wieder zur Nachbarin, die dort in der Haustür stehen muss, ich kann es mir anders nicht erklären. Nervös schaut der eine, anscheinend der Anführer, durch die Runde und marschiert dann los. Schnell weg. Nicht umdrehen. Intensiver Blickkontakt führt zum Anstieg des Oxytocin-Spiegels. Anstarren ist tödlich.

Eine im Rahmen des Schreiblabors zum Thema Recherche überarbeitete Version einer Bahnvorstellung.

 

18. Februar 2016 / Herbstkurs 2015
von Lili

Deine Hand unterm Kinn, zerdrückt die breiten Lippen wie ein welkes  Herbstblatt, so sitzt du dort, nur zwei Finger breit weit von mir entfernt. Deine Haare stürzen wie ein reißender Fluss aus federfeinen Strömungs-Schlieren in allen Nuancen von Karamell in die blaue Winternachtstiefe deines Pullovers. Eine Kette schimmert, vergoldetes Spinnenwebengeflecht in abendlicher Herbstsonne zwischen den Wellen hervor, um eine kleine, und Schneeflocken feine Taschenuhr fest zu halten, ein juwelener  Schmetterling, gegen den klobigen Block, hölzern rohen, Taschenrechner in deiner Hand. Die spitzzarten Zeiger, wie glühende Triebspitzen, ruhen klein undein Bischen verloren auf dem exakt mathematisch runden Ziffernblatt,  in ewigem Lächeln erfroren. Trotzdem ist dort, irgendwo, weit entfernt und so gerade noch wahrnehmbar, hinter dem sanft seidenen Geräusch deines Atems, ein leises Maschienenzucken, Tautropfen, die langsam in eine Pfütze fallen. In ihren tausendfachen Regenbogen Spiegelungen, dem fein gesprenkelten Bilderregen gefangen, sitzt eine steinerne Gestalt, zerbrechlich wie Glas, mit stummen Augen, zu Boden gerichtet, löst sich langsam, verzerrt sich zur unmenschlichen Fratze und birst schließlich in den Tropfenmengen auf dem Asphalt. immer wieder. Starr harrst du darüber, ein jagender Reiher, bewegungslos auf die Zukunft. Ein Hauch von Stolz bepudert die Regentagswolken, Schöpfungen deines ewig kreisenden Bleistiftes in dir, der in teils Schwan geschwungenen, aber eben so selbst verständlich in sich gekehrten, monotonen Bewegungen,einen dünnen Gedankenfaden auf dem dafür viel zu genau weiß grau, blau kariertem Papier hinterlässt. Vielleicht denkst du gerade, an all die vorbestimmten Aufgaben, die deine Tage bis morgen hin stehlen, oder an die Runen aus kirschroten Lehrerstiften, die deine restliche Zeit zu schlaflosen Nächten verpackt davon tragen. Jeder Tag ist wie ein Trickfilm mit Bildstörung, in deinen Augen. Eine Schallplatte mit Sprung. Gedanken kommen und gehen. Sie sind wie Blätter, denkst du, lebenswichtig, aber ständig neu, ein konstanter Rhytmus. Du schaust aus dem nass aschgrau gerahmten Fenster, auf die winterleere Welt und ein leises Lächeln kräuselt deine Lippen. Der Frühling wird wiederkommen. Die Zweigbäume und die Taschenuhr wissen es, du auch.

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5. Februar 2016 / Herbstkurs 2015
von Janne

Ich fühlte mich unglaublich lustlos und deprimiert, als ich am Freitagmorgen die Treppe runter schlurfte. Vielleicht lag es am Wetter. Draußen war es grau und trübe und das Rauschen des Regens hörte sich verdächtig nach einer zweiten Sinnflut an. Vielleicht lag es aber auch an meiner Nachbarin, die es fertiggebracht hatte, mich um sechs Uhr morgens aus dem Bett zu klingeln. Mürrisch öffnete ich die Tür. Da stand die alte Schreckschraube unter einem grauenhaft gemusterten Schirm, lächelte säuerlich und wirkte gemeinerweise putzmunter und ausgeschlafen. Vor ihr stand ein Einkaufswagen, auf den sie anklagend deutete.
„Den haben Sie in meinem Garten vergessen.“
Ich starrte sie an, dann den Wagen. Mein schlaftrunkenes Hirn konnte mit dieser absurden Situation nichts anfangen. Ein schlechter Scherz? Nein, das passte nicht zu ihr. Sie war Sekretärin in einer Bank und eine dieser streng dreinblickenden Frauen, die ihre Bluse immer bis zum letzten Knopf schlossen und herumliefen, als hätten sie einen Besen verschluckt. Eine Verwechslung? Oder war sie einfach nur zu faul, den Wagen selbst zurück in den Supermarkt zu bringen? Zuzutrauen wäre es ihr ja.
„Nun?“, fragte sie ungeduldig. Erwartete sie jetzt etwa auch noch, dass ich mich für das „Zurückbringen“ bedankte?
„Das muss ein Missverständnis sein. Warum sollte ich einen Einkaufswagen in ihren Garten stellen?“
„Was weiß ich, was in Ihrem kindlichen Gehirn vor sich geht. Ich fand Sie ja schon immer reichlich unreif, aber nun sind sie endgültig zu weit gegangen.“ Ihre Stimme wurde schrill und überschlug sich beinahe. „Sie haben Charles ermordet!“
Das wurde ja immer besser. Ich war mir inzwischen ziemlich sicher, dass das hier doch nur ein Albtraum war. Ich hatte noch nie von einem Charles gehört. Ihr Ehemann? Dann war es wohl eher Selbstmord gewesen.
„Hören Sie mal, ich weiß echt nicht wovon Sie reden. Wollen Sie nicht später noch mal wiederkommen? Dann bin ich garantiert wacher.“
Unter ihrem Blick schrumpfte ich mehrere Zentimeter. „Aber natürlich können wir das auch jetzt klären,“ beeilte ich mich zu sagen und unterdrückte ein Gähnen.
„Sie werden mir Charles ersetzen!“ Ach du meine Güte. Sollte ich ihr etwa einen neuen Mann heranschaffen? Ein absolut hoffnungsloses Unterfangen, selbst wenn ich einen fand, der blind und taub war. Aber vielleicht war Charles ja auch nur ihr Kater oder Pudel. Hoffte ich zumindest.
„Er war mein treuester Gartenzwerg. Ein Geschenk meiner Schwester, aus feinstem Porzellan. Und Ihr Wagen hat ihn in einen Haufen Scherben verwandelt!“
„Oh, das tut mir leid. Aber ich sagte doch bereits, dass das nicht mein Wagen ist. Und ihren Zwerg kann man bestimmt wieder zusammenkleben oder so.“
„Zusammenkleben!“ Ihre Stimme bebte vor Entrüstung. „Er wird natürlich ordnungsgemäß beerdigt. Und Sie bezahlen mir einen neuen Gartenzwerg, schließlich haben sie ihn auf dem Gewissen.“
„Wie oft soll ich Ihnen denn noch erklären, dass...“
„He, Miriam!“, wurde mein erneuter Verteidigungsversuch unterbrochen.
Eine weitere Nachbarin kam meinen Gartenweg entlang gewatet. Der Drache vor meiner Tür drehte sich irritiert nach ihr um.
„Da bist du ja. Ich wollte dir den hier noch vorbeibringen.“ Die Frau war unter dem Vordach angekommen, schüttelte sich den Regen aus den Haaren und hielt dem gestrengen Fräulein Rottenmeier einen Gartenzwerg hin. „Ich habe dir gleich einen neuen gekauft, nachdem mir gestern dieser Unfall passiert ist. Ah, da ist ja auch der Wagen.“ Sie schnappte sich den Einkaufswagen und lächelte mir zu. „Im Supermarkt werden sie sich sicher schon wundern, wo der abgeblieben ist.“ Dann war sie wieder im Regen verschwunden.
Die Gartenzwergliebhaberin stand weiterhin verdutzt auf meiner Fußmatte, scheinbar sprachlos. Entschuldigung gehörte wahrscheinlich sowieso nicht zu ihrem Wortschatz. Deshalb machte ich ihr einfach die Tür vor der Nase zu. Beim nächsten Mal würde ich sie ganz sicher gar nicht erst aufmachen.