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Meine Nachbarin

27. Mai 2016 / Frühjahrskurs 2016
von Sara Hanfler

Sie stapft und stampft und trampelt. Sie kreischt und stöhnt und lacht.

Sie ist ein Erdbeben, das an ihrer Zimmerdecke, die mein Fußboden ist, rüttelt und mich aus dem Bett schmeißt.

Sie verschiebt Möbel und patrolliert nachts ihre Wohnung; wie ein Zirkustier im Käfig ist sie immer wachsam, immer angespannt, immer auf einen Moment pochend, in dem die Aussicht auf Flucht besteht.

Tagsüber findet sie augenscheinlich Ruhe. Doch diese ist trügerisch; von der Sorte, wie sie vor einem Sturm einkehrt, wenn die Landschaft den Atem anhält. Denn zwar schweigen die weiß-roten Porzellanbären, die sich in verschiedenen Posen auf ihrem Fenstersims räkeln. Dennoch hat man, wenn man im Treppenhaus an ihrer Tür vorbeigeht, immer das Brennen eines misstrauischen Auges durch den Spion im Nacken.

Sie ist ein wildes Tier in einer Holzkiste.

Sie nagt und kratzt an den erstickend engen Wänden ihres Gefängnisses. Und sie schreit.

Anfangs schrie sie ihren Mann an; mittlerweile schreit sie nur noch der Leere in ihrer Wohnung entgegen.

Wenn man an ihrer Tür klingelt und sie bittet, ein wenig leiser zu wüten, sagt sie einem, man solle doch die Polizei rufen, wenn's einen störe. Es sei ihr egal.

Das Schreien ist ein Ritual. Ein letzter Akt des Aufbegehrens gegen den sich vor ihr aufbäumenden Koloss aus Zeit und Langeweile.

Das Schreien frisst sich wie glühend heißes Metall durch das teigige, leblose Fleisch ihres Alltags.

Sie schreit von zwölf Uhr nachts bis fünf Uhr morgens. Dann geht sie schlafen.

Und dann beginnt's von vorn.

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