27. Juni 2014 / Frühjahrskurs 2014
Ich stehe in dem Hinterhof zu einer Wohnung, in der ich mir ein Zimmer anschauen möchte. Gestern habe ich mit dem Vermieter gesprochen, spontan ist etwas frei geworden. Ich betrete das Treppenhaus des typischen Rotklinkers, der so verlassen in dem nackten Hinterhof einer Seitenstraße der Reeperbahn liegt. Im Hausflur hängt ein Telefon, das anfängt zu klingeln als die Tür hinter mir langsam ins Schloss fällt. Der Hauseingang ist schmal und vor mir eine weitere Tür. Ich nehme den Hörer ab und die weibliche Stimme am anderen Ende entschuldigt sich dafür, dass die Verbindung abgebrochen ist und wen ich doch gleich sprechen wollte. Ich denke an die Person, die ich wirklich am allerwenigsten sprechen und gleichzeitig so unbedingt hören möchte. Hans. Sie verbindet mich. Ein Verbindungston in der Leitung. Ich frage mich wie ich gestern Abend eigentlich nach Hause gekommen und warum ich bei meiner Mutter und nicht beim Schweden aufgewacht bin, als Hans, ein anderer als der an den ich dachte, mich fragt, wie ich heiße und wobei ich seine Hilfe bräuchte. Er klingt alt, nicht zittrig, aber lebenserfahren. Ich vertraue dieser Stimme sofort, aber erzähle ihm, dass mein Bruder verschollen ist und nur einen riesengroßen Haufen Scherben in seiner Badewanne zurückgelassen hat. Er reagiert ruhig und gelassen, worauf ich ein schlechtes Gewissen bekomme und auflege. Ein guter Hans, das merke ich mir.
Hinter der Glastür, durch die ich in das kleine Treppenhaus gelange steht ein älterer Herr, er trägt eine graue Anzugshose, Sportschuhe und einen braunen Pulli, der ordentlich hochgekrempelt ist und seine drahtigen Arme freilegt. Seine Haare sind dunkelbraun, glatt und über den Ohren abgeschnitten, sie liegen ihm fettig auf dem Kopf. Er hält einen Gegenstand fest in beiden Händen. Ich kann nicht erkennen was es ist, weil es von mehreren der dünnen Plastiktüten umhüllt ist, die man im Supermarkt für Gemüse bekommt. Er wirkt abwesend, aber ich nicke ihm zu und gehe weiter das Treppenhaus hinauf. Als ich mich noch einmal zu ihm umdrehe, reißt er energisch ein großes Loch in das Tütengewühl und guckt dabei durch mich hindurch.
Ich gehe weiter das braune Treppenhaus hoch, eine Hand immer auf der mit grünem Plastik ummantelten Rehling. Im ersten Stock, dem letzten in dem Haus, stehe ich vor drei Türen, allesamt nur angelehnt. Ich entscheide mich für die, die mir am nächsten liegt. Als ich die Türe öffne, falle ich fast über ein Feldbett, das mir das Eintreten in den Raum verhindert. Der gesamte Raum ist voll mit Betten. Auf dem vor mir liegen die weißen Laken ordentlich zusammengefaltet, am Ende eine senfgelbe Decke, wie sie auch beim Bund verwendet werden. Nur eben in senfgelb. Ich bin irritiert und klettere darüber, wobei ich versuche die ordentlichen Laken nicht zu zerknittern. Neben jedem Bett steht ein kleines Holzregal, mit einer Lampe. Es sind insgesamt fünf Betten, aber sechs kleine Regale. Rechts von mir sitzt ein junger Mann mit einem längeren schwarzen Bart, in weiter Jogginghose und t-Shirt und trinkt einen Chai, er guckt mich an, nicht unfreundlich, aber lächelt auch nicht und widmet seine Aufmerksamkeit wieder seinem Tee und seinen Gedanken. Es gefällt mir, dass er mich nicht wie die meisten Männer, denen ich begegne, vorallem nachts auf dem Kiez, von oben bis unten mustert um meine Fickbarkeit auszurechnen. Ein Typ hat sich zwei Betten zusammen gezogen und liegt in der Mitte des Raumes. Seine Haut ist dunkel, aber ich kann nicht ansatzweise einschätzen wo er herkommt. Afrika tippe ich in meiner groben Unwissenheit und dem Wunsch jetzt hier zu kategorisieren, und Sachlickeit in diesen Raum zu bringen, der sich mir noch nicht erschließen lässt. Die beiden sind die einzigen Personen in dem Zimmer und da sie sich nicht für mich interessieren, habe ich nicht das Gefühl zu stören, außerdem habe ich ja auch einen Termin, und gehe auf die Balkontür zu.
Sie lässt sich nach außen hin öffnen, ich könnte also mein Feldbett vor die Türe stellen. Der Luxusplatz, sozusagen. Auf dem Balkon ist auch genügend Platz für ein Klappbett, das bringt natürlich etwas mehr Privatsphäre. Der Boden und die Mauer des kleinen Balkons sind taubengraublau gestrichen und die erste Farbe, in dem gesamten Haus, die mir wirklich gefällt. Die Abgrenzung zur Nachbarwohnung ist eine Mauer, die mir nicht mal zur Hüfte reicht. Dahinter steht eine Frau, Mitte vierzig, sie lächelt mich an und entblößt ihre schlechten Zähne. Ihre Haare sind lockig und grau, und die dicken Arme hängen seitlich schlaff aus ihrem gelbbuntem Putzkittel. Ich lächle zurück und frage sie, ob ich wohl ein Bett auf den Balkon stellen könnte. Sie bejaht und sagt, dass der Mann, der vor mir den Platz gemietet hatte, das im Sommer auch oft gemacht hätte. Bevor er erstochen wurde natürlich. Das sagt sie mit gedämpfter Stimme und ich verlasse den Balkon mit einem Nicken. Zurück durch den Raum, über das Bett, durch das Treppenhaus, vorbei an dem Mann mit den Tüten, frage mich ob er der Vermieter ist, vorbei an dem Telefon mit Hans und freue mich mein Fahrrad zu sehen, glitzerndes hellblau, knallgelber Fahrradkorb und fühle mich weit weg von mir selbst.
Ich fahre die nächste Straße runter zum Hafen, nicht weil ich dort unbedingt hin möchte, sondern weil ich einfach nur schnell bergab rollen will ohne die Pedale treten zu müssen. Der harte Luftzug in meinem Gesicht tut gut. Es nieselt und ich fühle mich frei. Von all dem gerade Erlebten hinterlässt die Badewanne mit den Scherben den stärksten Eindruck. Die feinen Regentropfen stechen mir wie Nadeln ins Gesicht, auf meine halbgeschloßenen Augenlider, meine Lippen, sie stechen mir in die Wangeknochen und durch die Zunge, wenn ich den Mund öffne. Ich stelle mir ein Wasserglas vor, eins mit diesen ganz schmalen Rändern, bei denen man immer Angst hat sie könnten direkt im Mund zerbrechen. So eins stelle ich mir vor und wie hineinbeiße. Es blutet nicht, es splittert und knackt, wie harter Zucker. Ich stelle mir vor das herausgebissene Stück Glas zu zerkauen. Ohne Ekel oder Schmerz jeglicher Art. Nur das knisternde, knuspernde helle Geräusch des durchsichtigen Materials. Ich stelle es mir wunderschön vor. Selbst das leise Einschneiden in die Innenseite meiner Wange, wie das Glas einfach von innen nach außen durch das weiche Fleisch zieht. Ganz leise und sanft. Wenn man sich das ohne Blut vorstellt ist das sehr schön. Mit dem Gedanken an Blut zieht sofort die Idee von Schmerz und Verletzung auf. Ich konzentriere mich wieder auf die Regentropfen und fahre direkt runter an die Elbe. In zwei Stunden oder drei treffe ich eine Freundin, bis dahin esse ich ein Fischbrötchen und denke nicht an meinen Vater oder Kanada.