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wohnungsnot

27. Mai 2014 / Frühjahrskurs 2014

Marla kam aufgeregt in den Raum gestürmt und rief: „Caro, ich habe gerade die allerallerschönste Wohnung in ganz Berlin gefunden! Wir müssen auf jeden Fall morgen zu der Besichtigung und einfach umwerfend sein!“
Caro, die sich in ihrer durchaus wichtigen Tätigkeit - auf der Fensterbank sitzen und rauchen - unterbrochen sah, blies erst ein wenig Rauch aus dem Fenster, bevor sie antwortete: „Ja, du...super.“

„Lass uns schon mal gucken, was wir anziehen und wir brauchen dringend eine gute Geschichte, was wir Tolles arbeiten und was wir ehrenamtlich helfen – Behinderte oder so!“
Caro lachte nicht. „Später, in Ordnung? Ich bin gerade...“ „Was, wieso später? Sag mal, freust du dich eigentlich nicht? Du sitzt da, als hätte dir jemand Kuttelsuppe zu Mittag angeboten.“
Caro lachte immer noch nicht. „Entschuldige, ich bin gerade einfach – ich kann gerade nicht vollkommen ausrasten. Klar freue ich mich. Aber denk dran, es ist nicht mal klar, wann wir was bekommen und so.“
„Man Caro. Wir versuchens halt. Guck dir gleich mal die Bilder an. Die ist so weitläufig und hell und – vielleicht schlafen wir dann doch wieder in einem Zimmer. Ich flippe aus! Ich muss das schnell Sarah und Janosch erzählen“, sagte Marla und war schon fast aus dem Raum, als Caro sie zurückrief: „Warte mal. Marla, warte mal. Warte mal mit allem jetzt. Was redest du da von weiter in einem Zimmer schlafen? Wofür ziehen wir denn eigentlich um?“
„Um mehr Platz zu haben und...“ antwortete Marla, doch Caro unterbrach sofort und hatte Schwierigkeiten, die Lautstärke ihrer Stimme zu kontrollieren: „Wir haben beschlossen umzuziehen, damit jede von uns ihr eigenes Zimmer hat! Und das weißt du sehr genau!“
„Aber das ist nur, weil es hier zu eng ist! Wir haben doch immer gesagt, dass wir Berlin zusammen machen und wir das alles zusammen durchziehen und auch zusammen in einem Zimmer schlafen! Du willst das doch am meisten!“
„Warte Marla. Nein, ich meine, ich kann das nicht. Du hast Recht, ich freue mich nicht. Ich freue mich über gar nichts mehr. Ich will das nicht am meisten, vielleicht wollte ich das noch nie am meisten. Jetzt jedenfalls nicht mehr...“ „Hä, was? Ich meine, was zur Hölle redest du da gerade?“ sagte Marla und ging einen Schritt auf Caro zu, „wir haben gestern noch zusammen Wohnungen angeguckt!“
„Ich weiß ja! Wir sind hier schon echt lange, aber ich könnte kotzen. Noch nie in meinem Leben hat mich alles so dermaßen angekotzt. Ich meine, ich bin krank, merkst du das nicht? Sarah glotzt den ganzen Tag nur auf diesen Bildschirm und ich krieg Angst! Du beschwerst dich über die Sachen, die im Bad rumliegen, und was dich scheinbar nicht stört ist, dass ich jeden Tag euren Dreck in der Küche wegräume, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich will nicht, dass ihr mir dafür dankt! Ich kann das machen, es ist kein Problem für mich! Aber bitte tut doch nicht so, als wärt ihr die einzigen Menschen in der Wohnung! Wir sind vier Menschen, ja? Vier verschiedene Individuen und ich will, dass wir das auch merken! Aber wir merken nichts mehr, wir leben hier so rum und ich weiß nicht mal, was Janosch gerade so für Pläne hat. Ich weiß nicht, was Sarah vorhat diesen Sommer und ich glaube, es ist mir auch egal. Wir dachten doch, wir haben uns, aber jetzt hab ich das Gefühl, dass jeder Fremde in der S-Bahn mir näher ist, als irgendwer von euch. Und wir wollen das alle nicht einsehen und wahrscheinlich fängst du jetzt an zu heulen. Aber Marla, ich weiß ja. Als du eben reinkamst, war ich wieder kurz davor, es dir zu sagen. Ich will das schon seit ein paar Wochen sagen, aber ihr macht mir so eine Angst mit euren harmonietriefenden Plänen. Die Harmonie ist aber weg! Sie ist nicht da! Ich will sie auch, aber ich kann nicht so tun als ob!“

Caro hatte Marla nicht angesehen, während sie das sagte und als sie doch hinsah, klar, da weinte Marla. Man sah ihr an, dass sie noch mit den Tränen kämpfte und so klang es seltsam und brüchig, als sie aufstand und im Gehen sagte: „Ich geh nach draußen.“

Sie ließ Caro zurück, die sich rückwärts auf die Matratze unterm Fenster fallen ließ.
„Scheiße.“
Sie sagte das laut und fing an, sich eine Zigarette zu drehen. Als sie schon fast fertig war, konnte sie nicht mehr und knüllte alles in ihrer Hand zusammen. Sie rückte näher ans Fenster, öffnete ihre Faust und überließ die Krümel dem Wind, der sie an den Hochhäusern des Alexanderplatzes vorbei trug und sie in alle Richtungen zerstreute. So viel Zerstreuung würde ich auch gerne mal finden, dachte Caro.
In dieser Stadt sind doch eigentlich alle so zerstreut, dass sie nicht mal mehr wissen, wo ihre Körper schon überall rumgelegen haben.

Ein Gedanke zu „wohnungsnot

  1. Andrea

    Erster Eindruck:
    Wow, ich finde den Text sehr gelungen. Hab ihn gerade zum Frühstück verschlungen und ich kann es nicht anders sagen: er kickt. Man ist sofort dabei. Er gefällt mir viel besser als der, den wir im Labor besprochen haben. Warum? Kotzen wollen und Scheiße denken und sagen. Nicht gerade meine Lieblingswörter, aber im Dialog so gekonnt platziert, dass sie mir selber auf der Zunge lagen beim Lesen. Der Text ist rund. Der Titel gefällt mir. Wie nennt man das Stilmittel, das Du damit (wahrscheinlich intuitiv) anwendest? Das würde mich interessieren. Weiß das jemand?
    Meine Lieblinge: Kuttelsuppe, Warte mal mit allem jetzt, wir leben hier so rum.
    Ich werde den Text später noch einmal lesen und bin neugierig, wie er entstanden ist. Schnell zu Papier oder viel konstruiert? Hast Du ihn unter dem Nachdruck des Dialog-Labors geschrieben? Sind das Deine Hausaufgaben 😉 ?
    Ich habe letzte Woche eine Dialogübung gestartet, die sich von selber zu einer kleinen Geschichte entwickelt hat und werde sie jetzt glaub ich als Blog-Antwort hochladen. Es geht nämlich auch um Wohnungsnot und um mit allem jetzt warten und nicht zusammen leben können.
    liebe Grüße und Danke für Deinen Text

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