Gideon sah in tausende Gesichter und fragte sich, ob es unter ihnen jemanden gab, der fühlte, was er gerade verspürte. Tausende, rotbeleuchtete Gesichter, die in der Dunkelheit dämonisch wirkten und die mit weit geöffneten Augen, ernst zu ihm hochsahen. Die Farbe wechselte zu einem orange, gelb und von dort zu einem grellgrün, bis die Gesichter blau strahlten. Die bebende Musik wurde leiser und verstummte, an ihre Stelle trat ein hallendes Klatschen, wie prasselnder Regen. Jetzt ist es soweit, dachte Gideon, jetzt wird die Entscheidung fallen, jetzt wird sich alles ändern. Wieder sah er in die verzerrten Gesichter und wusste plötzlich, dass auch sie es wussten. Es könnte sich alles ändern und er würde heute Nacht in die Geschichte eingehen. Aber wenn er verlor, war Gideon nur ein weiterer Mann, der gescheitert war. Nichts, rein gar nichts, würde sich dann ändern, er würde alle enttäuschen. Er hatte es bis hierhergeschafft und würde es noch weiter schaffen. Die Frau mit den bunten Nägeln griff in die Schale. Sie sah durch ihre federartigen Wimpern auf den Umschlag. Die blauen Gesichter verzogen sich zu neugierigen Grimassen. Sie öffnete ihn, ihre Augen wurden groß. Sie lehnte sich vor, Gideon zurück. Ihre Lippen ans Mikrophon gepresst. Gideons vor Glück bebend. Hatte er gewonnen? Hallendes Klatschen. Regen.
Kategorie: 20 Sätze
»Kalt« von Kathrine Rüdiger
Ein großes, kaltes Haus und ein zweites großes, kaltes Haus und die beiden Freundinnen je in einem der beiden Häuser. Sie sind zurzeit an verschiedenen Enden des Kontinents, schreiben einander häufig Briefe, vermissen einander und berichten einander von sich.
‘Ich fühle mich so einsam ohne meine Freundin, hier ist niemand, es ist wirklich eisig, ich vermisse dich’
‘Wann kommst du endlich wieder, es fühlt sich wie Ewigkeiten an, seit wir uns zuletzt gesehen haben’
‘Egal, wie viele Streichhölzer ich anzünde, sie gehen aus, bevor ich das Kaminholz stark entflammen kann.’
So geht es weiter, sie vergessen, in ihren Briefen auf die Sätze der anderen einzugehen.
Sie haben selber viel im Kopf, Probleme, Feuer zu machen und sehr große Sehnsucht.
Die großen, kalten Häuser bleiben die großen, kalten Häuser für eine ganze Weile.
Keine Decken, die sie in den hintersten Winkeln der Häuser fanden, helfen.
Auch das Feuerholz tut es, als es dann brennt, nicht genügend.
Eine bedeutende Frage kommt bei der einen sehr bald auf.
Warum ist sie so weit weg von ihrer Freundin?
Sie muss wirklich schnell zu ihrer Freundin zurück.
Das ist es auch, was sie tut.
In ihrem Haus umarmen sie sich.
Und dann merken sie es.
Es war keine Kälte.
Etwas anderes fehlte.
Ihre Freundin.
Freundschaft.