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Manchmal wache ich morgens auf und brauche eine neue Jacke. Ich stehe auf und starte meinen Tag. Ganz normal. Aber der Gedanke lässt mich nicht los. Beim Frühstück machen brauche ich diese Jacke. Beim Zähneputzen, beim Schuhe anziehen. Ich brauche auch einen neuen Haarschnitt und einen neuen Namen. Ich fahre in der U-Bahn und denke an meine neue Jacke. Dann kommt das schlechte Gewissen. Ich habe mir schon letzten Monat eine Jacke gekauft. Wenn ich mir einen Kaffee kaufe, wische ich den Gedanken an die Jacke weg, verbanne ihn in den hintersten Winkel meines Kopfes. Ich gehe dann durch die Glastür, durch die ich jeden Morgen gehe und hänge meine Jacke über meinen Stuhl. Da ist die Jacke wieder. Ich brauche sie beim Passwort eintippen und in der Mittagspause. Kratzend sitzt sie in meinem Kopf und sagt, dass sie da ist. Ich stehe dann immer wieder auf und schaue in den Spiegel. Ich sehe doch gut aus, sagt er. Ich gehe wieder durch die Glastür. Ich muss noch einkaufen. Ich sehe mich in den Schaufenstern. In meiner Jacke, die ich nicht habe. Meinen Haarschnitt, den ich nicht will. Ich setze mich auf einen Friseurstuhl. Ab! Und gehe weiter. Meine neuen Haare reichen doch. Ein Kleidergeschäft. Ich gehe mit meiner neuen Jacke über die Straße. Wenn ich zu Hause bin, hänge ich sie in die Garderobe. Die anderen kommen in den Schrank. Ich esse Brot mit Käse. Fernsehen. Schlafen. 
Manchmal wache ich auf und brauche eine neue Jacke. 

Es war eine windige, aber stille Vollmondnacht, nur ab und zu ging ein Mensch durch die Straßen. Sie hatte trotz des unheimlichen Windes und der gestaltenartigen Schatten, die der Vollmond hervorbrachte, keine Angst und ging ohne ein Ziel weiter und weiter. Sie war alleine und wollte auch nicht, dass jemand bei ihr war. Sie war froh, dass nur wenige Menschen unterwegs waren.
Sie wohnte ganz alleine in einer kleinen Dachgeschosswohnung in einer kleiner Stadt an einem kleinem See. Fast immer war sie froh gewesen, doch nun nie mehr. Am Tag zuvor war ihr bester Freund, ihr Klassenkamerad in der gesamten Schulzeit, aus der Stadt gezogen. Er ist zu seiner zukünftigen Frau gezogen. Nicht etwa, dass sie eifersüchtig war, nein, sie wollte nur, dass sie ihn jederzeit besuchen könnte. Sie würde ihn vermissen.
In dieser Nacht wollte es ihr nicht in den Kopf kommen, dass er weg war, 75 Kilometer entfernt von ihr, nicht mehr zwei Blöcke. Es war so ein neuer Gedanke, an den musste sie sich gewöhnen. Sie merkte, das sie sich immer weiter ihrer Wohnung näherte. Warum nicht, dachte sie. Sie kam an seinem Block vorbei, blieb stehen, sah hinauf in den zweiten Stock. Der Wind wehte noch immer stark. Ihr Haar wehte zur Seite. Sie dachte, dass er später einmal ein berühmter Mann sein würde. Dann wird sie sich denken: Weggezogen ist er – weg aus einer so wunderbaren Stadt.

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