Springe zum Inhalt

»Eine windige Nacht« von Kathrine Rüdiger

Es war eine windige, aber stille Vollmondnacht, nur ab und zu ging ein Mensch durch die Straßen. Sie hatte trotz des unheimlichen Windes und der gestaltenartigen Schatten, die der Vollmond hervorbrachte, keine Angst und ging ohne ein Ziel weiter und weiter. Sie war alleine und wollte auch nicht, dass jemand bei ihr war. Sie war froh, dass nur wenige Menschen unterwegs waren.
Sie wohnte ganz alleine in einer kleinen Dachgeschosswohnung in einer kleiner Stadt an einem kleinem See. Fast immer war sie froh gewesen, doch nun nie mehr. Am Tag zuvor war ihr bester Freund, ihr Klassenkamerad in der gesamten Schulzeit, aus der Stadt gezogen. Er ist zu seiner zukünftigen Frau gezogen. Nicht etwa, dass sie eifersüchtig war, nein, sie wollte nur, dass sie ihn jederzeit besuchen könnte. Sie würde ihn vermissen.
In dieser Nacht wollte es ihr nicht in den Kopf kommen, dass er weg war, 75 Kilometer entfernt von ihr, nicht mehr zwei Blöcke. Es war so ein neuer Gedanke, an den musste sie sich gewöhnen. Sie merkte, das sie sich immer weiter ihrer Wohnung näherte. Warum nicht, dachte sie. Sie kam an seinem Block vorbei, blieb stehen, sah hinauf in den zweiten Stock. Der Wind wehte noch immer stark. Ihr Haar wehte zur Seite. Sie dachte, dass er später einmal ein berühmter Mann sein würde. Dann wird sie sich denken: Weggezogen ist er – weg aus einer so wunderbaren Stadt.

Er war Autor. Sein erstes Buch war kurz vor der Veröffentlichung. Er konnte wunderbar schreiben, sie hatte viel von ihm gelesen. Unveröffentlichtes, was er in der Schulzeit geschrieben hatte. 
Ach, wie sehr sie sich wünschte, dass er wenigstens noch einmal zurückkommen würde. Heute noch. Vielleicht lieber morgen. Oder übermorgen. Irgendwann einmal. Einen Freund, der einen das ganze Leben begleitet hat, kann man nicht einfach so zurücklassen. Warum hätte seine Freundin nicht in diese Stadt kommen können? In diese wunderschöne kleine Stadt. Er hatte sogar eine sehr hübsche Wohnung, die war groß genug für die beiden. Wahrscheinlich war ihr die Stadt hier zu klein. Sie kam aus einer Großstadt. Einer großen Großstadt. Nichts zu ändern. 
Während sie so nachdachte, merkte sie nicht, dass ihr die ganze Zeit jemand gefolgt war. Sie merkte es weiterhin nicht. Er stand dort. Hinter der Hausecke. Er stand da und sah sie an. Nichts weiter, wie es schien… 

Er sah, dass sie aus dem Haus kam. Er stand auf der anderen Seite der Straße und sah zu ihrem Fenster hoch. Als das Licht ausging, konnte es zwei Sachen bedeuten: Sie war zu Bett gegangen oder sie war, wie er hoffte, zu einem nächtlichen Spaziergang aufgebrochen. Das tat sie gerne.
Sie kam aus der Tür, blieb kurz stehen, dachte kurz nach, ging los. Er folgte. Er hatte vor, sie irgendwann anzusprechen, noch nicht gleich. Sie ging und ging und ging, hielt nicht an. Sie kamen an dem See vorbei, an dem die kleine Stadt lag. Er dachte an die wunderbaren Sommertage, die er mit seinen Freunden dort verbracht hatte. Nach der Schule gleich zum See. Auch wenn es spät war. Sie war auch oft da. Manchmal war er auch alleine da gewesen. Dann lag er auf der Wiese oder saß auf der Bank und schrieb eine seiner vielen Geschichten.
Sie war in Gedanken vertieft. Sie sah sich kein einziges Mal um. Er überlegte, wie ihre Reaktion sein würde, wenn sie es doch täte. Freude? Traurigkeit? Angst? Aber warum sollte sie Angst haben? Gut, wenn sie ihn nicht erkannte und für irgendeinen Fremden hielt, der sie verfolgte, dann wäre das erklärlich. Er hoffte auf Freude. 
Er merkte, dass sie zu ihrer Wohnung zurückkehrten. Er musste sich schnell etwas einfallen lassen, wie er sie ansprechen könnte, wenn er es wollte. Und er wollte es. Sie kamen zu seinem ehemaligen Haus. Sie blieb stehen. Er blieb stehen. Sie sah hoch zu seiner Wohnung. Er sah sie an.
Ohne länger darüber nachzudenken, ging er langsam mit ruhigen Schritten auf sie zu. Kurz bevor er bei ihr ankam, drehte sie sich um. Er blieb stehen. Er wartete auf ihre Reaktion. Sie starrte ihn mit leicht geöffneten Mund an. In ihren blauen Augen spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen.

Was sollte sie sagen? Sie wusste es einfach nicht. Sie fühlte sich wie eingefroren. Den ganzen Abend hatte sie sich gewünscht, dass er wenigstens noch einmal zurückkommen würde, aber wirklich damit gerechnet hatte sie nicht. Sie hatte sich nicht ausgemalt, wie es sein würde, wenn er endlich vor ihr stehen würde. Der Wind wehte durch sein dichtes, dunkles Haar. Er lächelte sie an, sie lächelte ihn an, sie verstanden.

Schreibe einen Kommentar