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»Der rote Pfeil« von Marian Bansmann

Er zielte sorgfältig und schoss ihr den Pfeil mitten in die Brust. Den Bogen befestigte er vorsichtig an seinem Rücken, ohne dabei seine Flügel zu berühren und der Köcher raschelte leise; daraus lugten rote und schwarze Pfeilfedern hervor. Als er sich umdrehte, um den langen Weg nach Hause anzutreten, fiel ein langer Schatten auf seinen kleinen Körper, der jegliches Licht verschluckte. Aus der Dunkelheit ertönte ein Flüstern: „Sie gehört mir. Du darfst sie mir nicht nehmen.“ 
Der Kleine seufzte. „Ich hatte dich schon erwartet. Sie muss sich von dir lösen.“ 
„Sie gehört mir.“ 
„Du bist tot und sie lebt. Schluss aus.“ 
„Wie kannst du es wagen? Ich werd‘ dir zeigen, wer hier tot ist.“ 
„Kennst du die Geschichte vom Fluss und dem Fisch?“ Er schnippte mit der Hand und eine kleine, hellrote Flamme stieg aus seiner Handfläche empor. Der Schein ließ den Schatten ein Stück zurückweichen. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Nein? Sie geht so: Eine Flussgöttin verliebt sich in einen bunt schimmernden Fisch, der in allen erdenklichen Farben leuchtet. Für immer will sie den Fisch an ihrer Seite wissen, ihn lieben und nie mehr loslassen. Eines Tages kommt ein Angler und fängt den Fisch. Die Flussgöttin ist schwer betrübt, kein Licht fällt mehr durch die Wasseroberfläche und sie lässt all ihre Pflichten schleifen. Das Problem wird immer schlimmer. Also werde ich gerufen und was mache ich? Ich suche einfach einen neuen Fisch und verschieße meinen Pfeil. Das ist der Lauf der Dinge.“ 

„Was?“, fragte der Schatten verständnislos. 
„Du bist nicht der Hellste, oder?“ Der Kleine kicherte. 
„Deine Doppelmoral ist lächerlich.“ 
„Wie bitte?“ 
„Ich habe Gerüchte über dich gehört. In der Dunkelheit hast du dich versteckt und auch du wolltest den Tod nicht akzeptieren.“ 
Der Kleine schwieg. „Untersteh dich, weißt du, mit wem du redest?“ 
Ein kehliges Lachen ertönte aus der Dunkelheit, die der Feuerschein nicht erreichte. „Gib sie mir zurück, ich will sie in meinen Armen halten. Du müsstest das verstehen.“ 
„Mein Pfeil ist schon verschossen.“ 
„Was interessiert mich dein Pfeil; lass mich sie noch einmal sehen und ich füge mich meinem Schicksal.“ 
„Nur unter einer Bedingung: Wenn sie dich nicht mehr liebt, musst du das akzeptieren.“ 
„Das wird nicht passieren, wir haben uns geschworen sowohl im Leben als auch im Tod eins zu sein.“ 
„Gehst du auf meine Bedingung ein oder nicht?“ 
Der Schatten bejahte. 
„Nun gut, so erlaube ich dir dieses eine Treffen. Nutze es weise und verabschiede dich. Das ist mein Rat.“ 
Der Kleine mit dem Bogen und den Flügeln klatschte in seine wohlgeformten Hände: Eine rötliche Wolke stieg um ihn herum auf, umhüllte die schlafende Frau und dehnte sich weiter aus, bis der gesamte Raum bis auf den Schatten eingeschlossen war. 
„Ein Treffen.“ Er streckte seine zusammengefalteten Flügel aus und schwang sich in die Luft. 
„Warte!“, zischte der Schatten. „Meine Gestalt, was ist damit?“ 
„Vertrau mir und gib dich dem Rot hin. Ich halte meine Versprechen.“ 
Der Schatten gab die Kontrolle über den letzten Rest seines Wesens ab. In dem Moment drang die rote Wolke in das Schwarz ein. 

„Wo hast du gesteckt?“, fragte die junge Frau den Schatten wütend.
„Ich, ich …“ 
„Meine Mutter hatte recht, du bist so wie all die anderen. Egoistisch bist du, oh ja!“ 
„Aber, hast du vergessen, was passiert ist?“ 
„Das interessiert mich nicht mehr, du bist Geschichte! Schreib dir das hinter die Ohren! Hätte ich doch nur auf meine Mutter gehört!“ 
„Liebes, ich bin es doch. Erkennst du mich denn nicht?“ 
„Ach, hör doch auf mit dieser Tour; deine Masche kannst du dir sonst wo hinstecken! Ich hab genug von dir, hörst du?“
„Weißt du nicht mehr, wie wir zusammen Kajak gefahren sind? Du hast den Urlaub doch geliebt, erinnerst du dich denn nicht mehr?“ 
„Natürlich erinnere ich mich, meinst wohl, dass ich Lücken im Gedächtnis hätte, was? Ich sag dir jetzt mal wie es ist: Ich habe jemanden kennengelernt.“
„Du hast jemanden kennengelernt?“ Die Stimme des Schattens hatte jeglichen bedrohlichen Tonfall verloren, war nur noch ein leises Flehen. 
„Was du kannst, kann ich auch! Ich weiß doch genau, was du gemacht hast, als du verschwunden bist. Nicht mit mir, hörst du? Du bist Geschichte!“ 
„Niemals! Niemals! Unser Versprechen … ich kann dich nicht einfach so gehen lassen, ich – “

Ein Flügelschlag erklang und übertönte das Gespräch, als sei er magisch verstärkt. Die rote Wolke verzog sich. Der Schatten war auf einen etwa faustgroßen Fleck zusammengeschrumpft. 
„Du hast gegen die Bedingung verstoßen“, sagte der Kleine. 
„Was ist mit ihr?“, fragte der Schatten panisch; die junge Frau war verschwunden. 
„Sie schläft und ist sicher.“ 
„Was hast du ihr angetan?“ 
„Ich habe meinen Pfeil verschossen. Was machen wir jetzt mit dir?“ 
„Lass mich noch mal bei ihr sein. Ein letztes Mal.“ 
Ein helles Lachen erklang. 
„Deine Passion imponiert mir, das muss ich zugeben. Aber Bedingung ist Bedingung. Die Unterwelt wartet auf dich.“ 
Aus seinem Köcher zog er einen schwarzen Pfeil, spannte den Bogen und schoss ihn in den Schatten. 

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