Helmut ist tot.
Melina ist tot.
-Amy Winehouse
Whitney Houston
Jim Morrison
Wer schon nicht?
-Wollen Sie etwa sagen, Melina Schulte sei drogenabhängig?
-Gewesen, nehme ich an.
-Frau Schultes Tod scheint Sie ja recht kalt zu lassen...
-Wie ich schon sagte:
Michael Jackson
Meine Großtante
Der Fisch
Nein, nicht drogensüchtig, nur tot.
Ich hatte mich informiert, wie man sich in solchen Situationen zu verhalten hat. Vernehmungen, polizeiliche. Souverän, stand im Internet, ruhig und nicht zu emotional. Ob meine Umsetzung den Maßen entspricht, bin ich mir nicht so sicher. Der Polizist jedenfalls guckt etwas seltsam.
Ungewohnte Situationen bekommen mir nicht.
Sie haben Frau Schulte in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Der Polizist sieht von seinen Unterlagen auf. Und mich an. Eindringlich, forschend; inzwischen komme ich ganz gut damit zurecht, solche Blicke zu deuten und auch angemessen zu reagieren.
Korrekt, sage ich und nicke dabei. Der Polizist nickt ebenfalls, beinahe zufrieden, scheint eine passende Reaktion gewesen zu sein. Er notiert sich etwas auf seinem Block, sieht wieder auf nach einer Weile. Ich muss Ihnen nun einige Fragen stellen, sagt der Polizist. Ich nicke wieder, knapp. In welchem Verhältnis standen Sie, setzt er an.
Von außen wird die Türklinke heruntergedrückt, ein Mann betritt den Vernehmungsraum. Gott sei Dank, würde Melina nun sagen, aber die sagt nun gar nichts mehr, denn sie ist tot. Ich muss Sie bitten, diese Befragung zu unterbrechen, sagt der Mann. Der Polizist dreht sich ihm zu. Sie sind der Anwalt?, nimmt er an. Nein, sagt der Mann, ich bin Laurenz Böhms Arzt. Er reicht dem Polizisten ein Formular, dieser überfliegt es flüchtig, nickt. Dann nimmt mein Doktor mich am Arm, lässt gleich wieder los, als ich verkrampfe. Kommen Sie, Laurenz, sagt er und ich folge ihm.
Der Fisch schwimmt mit dem Bauch nach oben auf der Wasseroberfläche. Es sieht nicht besonders gesund aus. Vielleicht will er sich sonnen.
Ich drücke Melina unter Wasser. Atme, flehe ich innerlich, atme doch. Ihr Körper zuckt, schwach nur noch, ihre Haut ist kalt. Das Wasser steigt quälend langsam, langsam nur, ihr Gesicht unter Wasser.
Melina schwimmt mit dem Gesicht nach unten in der Badewanne. Sie sieht nicht besonders gesund aus. Vielleicht will sie tauchen.
Sie regt sich nicht. Ich packe sie an den Schultern, drehe sie um. Das Wasser schwappt am Badewannenrand. Ihre Augen sind geweitet, schwarze Pupillen, die die Leere schlucken. Die mich umfängt, als mir bewusst wird, dass ich allein in dieser Wohnung bin.
Der Fisch ist tot.
Ein neuer Fisch schwimmt in dem Fischglas.
In meinem neuen Zimmer ist es nicht sehr groß.
Sie nennen es Tötung. Morden wäre es nicht, wegen der geistigen Einschränkung. Sagten sie hinter meinem Rücken, aber ich habe es natürlich trotzdem gehört. Ich meine, das ist natürlich Unsinn, Augen hinten, hat ja keiner, aber die Ohren sind so gebaut, seitlich, dass man nicht nur von vorne hört. Es ist kein Gefängnis, aber es fühlt sich so an.
Ich glaube, ich weiß jetzt, was Melina meinte mit der zu kleinen Welt vom Helmut. Ganz schön eng in so einem Goldfischglas.
Ich habe Helmut im Klo heruntergespült. Es hat gerauscht, dann war er weg.
Ich lasse das Badewannenwasser raus, es gurgelt, es würgt, dann drehe ich den Hahn auf, das Wasser fließt schneller nach als wieder ab, steigt an, in meinem Hals, zum Wasser; Wasser fließt, alles dreht sich, wie ein Strudel zieht meine Gedanken in den Bauch, mir wird schwindelig; steigt über den Badewannenrand, Melinas Körper schlaff und leer; wie ein Fisch auf dem Trockenen. Als das erste Wasser meine Füße umspült, über die kalten Fliesen durch den Schlitz unter der Tür, da beginne ich zu schreien.
Der Fisch glotzt und schwimmt und glotzt. Er hat keinen besonders großen Lebensinhalt.
Ich würde gerne mit dem Fisch tauschen.
Melina spitzt die Lippen. Sie hält die Tasse mit beiden Händen umschlossen. Ich trage eine Sechs ein. Ganz oben in der Ecke. Kategorie kniffelig. Mathe ist Musik. Eine Fünf in der Mitte, oben. Melina nimmt einen Schluck von ihrem Tee, stellt die Tasse ab, seh' es aus den Augenwinkeln, spitzt die Lippen. Ich hebe meinen Blick etwas. Melina spitzt die Lippen, wieder. Kurz zu einer Null, gefaltete Lippen, nur in Sekundenschnelle, dann wieder geglättetes Lächeln. Ich ziehe die Stirn kraus, weiß ihre Zuckungen (/diese Impulse/Mimik/Ticks) nicht zu deuten.
Ich unterteile in Kategorien, vergleiche an Maßstäben – ein Sudoku Stufe schwer ist kinderleicht, im Vergleich zu Gesichter lesen, verstehen; eine passende Reaktion sprengt viele Messlatten. Ich löse meinen Blick, eine Zwei in das Kästchen links, Mitte, daneben eine Acht. Als ich meine Augen kurz vom Rätsel löse, wieder dieses Lippenspitzen, wie zum Fischkuss; wie der Fisch.
Der Fisch hat keinen Namen. Melina findet das seltsam. Der Fisch heißt jetzt Helmut. Helmut-Der-Fisch.
Mit vierzehn Jahr' und sieben Wochen ist der Backfisch ausgekrochen. Mit siebzehn Jahr', sagt Melina, und Wochen drei, ist die Backfischzeit vorbei. Ich weiß nicht genau, was sie mir damit sagen will. Vielleicht hat sie das aus der Bibel. Melina liest viel darin, zumindest steckt sie immer ihre Nase da rein und sagt dann nachher immer so seltsame Sachen. So etwas, wie das mit dem Fisch. Jona und der Fisch und Menschenfischer zum Beispiel.
Hinten auf ihrem Audi klebt auch ein Fisch, Zeichen der Christen, hat sie mir erklärt. Manchmal glaube ich, Melina kommt nur hierher, um nach Helmut zu gucken, wie es ihm geht in seinem Fischglas. Aber das stimmt natürlich nicht, sie kommt nur wegen mir.
Melina ist nämlich nicht nur Christin, sondern auch Sozialpädagogin. Sie kommt jeden Mittwoch und freitags und jede zweite Woche auch am Donnerstag und dann übt sie mit mir. Gesichterlesen und Unsichtbarwerden und so etwas. Darin bin ich nicht so gut. So Sachen wie, Fischen Namen zu geben, das verstehe ich nicht. »Der Fisch«, reicht doch völlig aus, als Variable, ein X.
Ich frage mich, ob Melina ein Backfisch ist, war oder gerade zu einem mutiert. Ich weiß nicht genau, wie alt sie ist. Als ich sie mal gefragt hatte, hat sie nur gelacht und mir dann erklärt: So etwas fragt man eine Frau doch nicht. Aber älter – ich wage sogar trotz etlicher Verfehlungen meinerseits zu behaupten: weitaus älter – als siebzehn ist sie allemal. Erste Falten, die schlaffe Haut widersprechen dem Bild eines Teenagers.Vielleicht war sie einem früheren Leben ein Fisch. Ich habe in einem Sachbuch darüber gelesen. Den Buddhismus fand ich sehr interessant, Wiedergeburten, Karma und so weiter. Da müsste Melina sich aber ziemlich hochgearbeitet haben, vom Fisch bis zum Menschen. Ich sehe zum Goldfischglas. Wie er mich anglotzt, als wolle er mir etwas mitteilen. Vielleicht ist es ja – Gott, würde Melina sagen, habe sie selig - meine Großtante Grunhild. Nicht etwa Helmut!
Melina sagt, der Fisch sei nicht glücklich in seinem Fischglas. Das sagt sie, dabei ist sie es doch auch nicht, oder? Glücklich meine ich. Sie sagt, seine Welt sei zu klein.
Melina trinkt einen Anti-Stress-Tee. Wir sitzen am Küchentisch. Draußen regnet es. Ich löse ein Sudoku. Mir hat sie auch eine Tasse angeboten, wie immer; der Anti-Stress-Tee und ihr ständiges Gefrage danach machen mich ganz nervös. Der Tee schmeckt nach abgestorbenen Bakterien mit Farbstoff. Was für ein Schietwetter, sagt Melina. Ich zwinkere kurz verwirrt. Mit Smalltalk ist das auch so eine Sache. Man redet über Unwichtigkeiten, völlig belangloses Zeug, wie den Regen draußen, zum Beispiel, obwohl man doch drinnen sitzt und man es warm hat und trocken.
Ich zögere kurz und erwidere dann: In zehn Litern Regen ist ein Mikroliter Tränenflüssigkeit enthalten. Denn weinen wir Menschen, so sickern die Tränen in den Boden, verdunsten bei Wärme. In diesem nun gasförmigen Zustand... Melina unterbricht mich. Das ist ja interessant, sagt sie, sehr sogar. Aber unsichtbar wirst du so ganz bestimmt nicht. Versuchen wir es nochmal. Sie überlegt einen Moment. Hast du eigentlich auch von dem Film gehört, den sie jetzt ganz groß in den Kinos rausbringen wollen?, sagt sie dann, Die Verdammnis, Teil 4...
Das ist ein Zwischenraum. Die Leere im Fischglas; Melina kommt jeden Freitag und dienstags, die Tage da-zwischen. Der Spalt, der entsteht, wenn ich die Tür öffne, ich verweile lieber in Gesellschaft von Fischen; die Furche in der Diele, es sammelt sich Staub; es macht mir Angst; das Schweigen zwischen dem Helmut und mir. Helmut ist tot. Der kann nicht mehr blubbern, sprechen erst recht nicht.
Es ist Dienstag, Melina ist nicht da. Diesen Freitag kam sie auch nicht. Die Tage sind still seitdem.
Wir haben heute Fisch gegessen, zu Mittag. Ich mag keinen Fisch. Melina hat gesagt, iss den Fisch, stell dich nicht so an, der ist doch nun eh schon tot. Er solle schließlich nicht umsonst gestorben sein, sagte sie und dann hat sie sich verschluckt. An einer Gräte. Ich musste lachen.
Melina hustet. Ihre Wangen blasen sich auf. Sie beugt sich vor, krampft mit beiden Händen an den Tisch. Ihre Gesichtsfarbe wechselt von normal zu rot zu bläulich grün, fischgrün.
Wasser, krächzt sie, Wasser! Sie keucht. Ihre Knöchel laufen weiß an.
~Auszug aus *Handbuch der Fische*, Kapitel 4: Die Kiemen:~
Anstelle der Lunge besitzen Fische Kiemen. Diese müssen ständig mit Wasser "durchspült" werden, sodass der Fisch mit Sauerstoff versorgt wird. Da diese Kiemenatmung nur im Wasser funktioniert, können Fische außerhalb des Wassers nicht überleben, sondern ersticken, wenn sie zu lange an Land sind.
Wasser!, bringt Melina zum letzten Mal mühevoll heraus. Vielleicht zum ersten Mal ist mir mein Handeln glasklar vor Augen. Ich packe Melina unter den Achseln, schleife sie über den Boden, durch den Flur, ins Badezimmer. Sie atmet nur noch schwer. Ich lasse das Badewannenwasser ein. Melina röchelt, die Augen verdreht, ihr Körper immer schwächer in meinem Armen, wie ich sie in die Wanne hieve. Ihr Gesicht ins Wasser halte, sie in das Wasser drücke.
Können Fische schlafen?
Die Welt ist still seitdem.
von Anneke Maurer