Springe zum Inhalt

»Prolog« von Luis Henckell-Rosas

Ein kleine weiße Daunenfeder, wahrscheinlich hatte sie sich im Laufe des Abends vom Brautkleid gelöst, wurde hochgewirbelt, tänzelte für einen kurzen Moment unbeschwert durch die Luft, ehe sie schließlich im Sog des Menschenmeeres ertrank. Der Mann schreckte auf. Anscheinend hatte er kurz vor sich hin geträumt, doch nun hatte ihn die Vernunft wieder ergriffen.

Horatio saß in aufrechter Haltung in einem für ihn zu lockeren Anzug, welchen er sich am Vortag ausgeliehen hatte. Sichtlich angeschlagen von den Strapazen der letzten Tage saß er nun da, in einem großen Saal umringt von mehreren hundert Leuten, die sie alle hier an diesem Tage zusammen gekommen waren, um eine Hochzeit zu vollzuziehen. Diese Hochzeit fand im größten Gebäude des Ortes statt. Eine alte Poststelle war in ihrem Ruhezustand zu einem Saal umfunktioniert worden, in welchem häufiger Hochzeiten und ähnliche Arrangements gefeiert wurden. In diesem Saal vermochte Horatio das Echo seiner Klagen zu hören. Er hasste Hochzeiten. Mit ihrer Unbeschwertheit und dem Ablegen jeder Kontrolle war die Hochzeit ein Zustand, der Horatios Vorstellungen vom Leben zutiefst zuwiderlief. Zudem wirkte der Saal mit seinen hohen Mauern und seinem hohlen Inhalt, wie ein Gefängnis auf ihn. Horatio nahm seine Rolle ein und ließ sich daher, wie ein schuldiger Verurteilter, widerstandlos berauschen. Nach einer langen Weile der Wehrlosigkeit beschloss er das Beste aus seiner Situation zu machen und dem Rausch ein Ende zu bereiten. Er unterdrückte die Kopfschmerzen, die ihn schon den Abend über begleiteten und versuchte seine Umgebung zu analysieren.

Die runden Tische, woran meist einzelne Familien saßen, waren in einem größeren Kreis angeordnet. In der Mitte des Saales war die Tanzfläche auf welcher in diesem Augenblick nur das Brautpaar war, welches das Privileg hatte zu tanzen. So richteten sich die Augen der Schaulustigen auf das Paar, welches in einem alkoholischen Rausch die Nervosität ablegen konnte, welche nun mal aufkam, wenn man vor so vielen Menschen tanzen musste und das dazu noch an so einem besonderen Tag. Horatio hatte es nun geschafft die Außenwelt gänzlich auszublenden und analysierte das Pärchen auf der Tanzfläche mit kritischer Miene. Ihm fielen sofort die kleinen Details auf, welche einem Laien wohl für immer verborgen bleiben würden. So fiel ihm auf, dass der Tänzer während er durch den Saal sich bewegte, leicht mit seinem linken Bein verzögerte. Horatio wusste das, weil es sich bei jenem Tänzer um einen alten Arbeitskollegen handelte. Dieser unregelmäßige Schritt war einer alten Schussverletzung geschuldet, welche der Arbeitskollege auf einem gemeinsamen Einsatz erlitten hatte. Dies war nun schon Jahre her und Horatio hatte bereits einen neuen Arbeitskollegen, da er eines Tages aus familiären Gründen wegziehen musste, um seinen kränklichen und in die Jahre gekommenen Vater zu pflegen. Dennoch blieben die einstigen Polizei-Partner in regem Kontakt, sodass sich Horatio also nun in diesem riesigen Saal wiederfand, auf der Hochzeitsfeier seines ehemaligen Kollegen. Auch wenn es ihm in diesem feierlich dekorierten Saal fast zu bunt wurde, machte er gute Miene zu diesem falschen Spiel.

Für einen jeden, der vorbeikam, fand Horatio warme Worte, in welchen er meist nostalgisch über die guten alten Zeiten schwärmte. Vermutlich merkte man ihm keineswegs eine Befremdung in jener Situation an. Andere Personen hätten vielleicht sagen können, dass Horatio in dieser Situation gar aufblühte. Doch Horatio machte sich keine großen Gedanken über solche Fragen. Schweigend nahm er zur Kenntnis, dass seiner Frau eine Träne die Wange runterlief. Den restlichen Abend ertrug er mit einer gleichgültigen Miene. Als Horatio am Ende der Hochzeit sich auf dem Heimweg befand, in die kalte Nachtluft blickend, welche durch die spärlich am Seitenrand verstreuten Straßenlaternen durchaus genügend erhellt wurde, konnte er endlich wieder klar denken. Während hinter seinem Rücken die Schneeflocken weiter durch die Nacht tanzten, zauberte ihm dieses Gefühl der Kontrolle fast ein Lächeln ins Gesicht.

Wäre Horatio, während er noch im Saal saß, nur ein einziges Mal aufgestanden, sei es, weil er die Toiletten aufsuchen müsste oder gar als Flucht vor der erdrückenden Stimmung, wie sie ihm im Saal widerfahren ist, dann hätte er bestimmt durch die großen Eingangstüren den Hauptraum verlassen. In diesem Fall wären ihm zu seiner Rechten die eleganten Treppen aufgefallen, welche sich ihren Weg nach oben bahnten. Schließlich hätte ihn seine Neugier, wie sie vor allem als Polizeikommissar besonders ausgeprägt war, gepackt und er wäre auf Zehenspitzen Stufe für Stufe hochgeschlichen.

Gleich im ersten Stock wäre er auf den Flur getreten und hätte vielleicht bemerkt, dass sich direkt über dem Saal eine ganze Reihe von kleineren Wohnungen befinden musste. In seinem Bestreben Licht ins Dunkel zu bringen, wäre er einige Schritte in den langen Flur hineingetreten, um in voller Konzentration mit ausgestrecktem Arm einen Lichtschalter zu ertasten. Im Zuge seines kontinuierlichen Misslingens wäre ihm jedoch eine Tür im Flur aufgefallen unter welcher noch etwas Licht zu brennen schien. Nach einer Weile der Einkehr wäre Horatio zwangsnotwendig zu der Frage gekommen, weshalb und unter welchen Umständen zu dieser unzivilisierten Zeit noch jemand hier wach war. Sehr wahrscheinlich wäre es sogar soweit gekommen, dass Horatio an der Tür geklopft hätte, erst zögerlich eher einem Kratzen oder Schaben ähnlich, doch dann mit tiefster Entschlossenheit verbunden. Schließlich wäre ihm dann aufgefallen, dass die Tür einen Spalt weit offen war. Nach einem kurzen Moment der Verwunderung wäre er dann, tief von seiner Neugier ergriffen, in diese neue und für ihn vollkommen fremde Welt getreten. Wäre alles so eingetroffen, wie geschildert, dann hätte diese Geschichte gänzlich anders laufen können. Es hätte vielleicht sogar das ewige Ende Horatios bedeuten können. Horatios Neugier hätte ihn schließlich ins Verderben geführt. Jedoch kam es nicht so. Vielmehr fühlte er sich an die Konventionen der Hochzeit gebunden und so wartete er brav, wie er nun mal war, bis zum Ende des Abends auf seinem Stuhl, ehe der Abend schließlich vorbei war. Als sich bereits die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen ihren Weg ins Schlafzimmer bahnten, lag Horatio in Erwartungen an den morgigen Tag in seinem Bett und schlief unbeschwert ein.

von Luis Henckell-Rosas

Schreibe einen Kommentar