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»Maske« von Emma Hertzog

»Guckt auch bei den anderen vorbei«, beendete er eine neue Aufnahme und loggte sich danach auch aus dem Teamspeak aus. Grinsend lehnte er sich zurück. Seine Identität zu verheimlichen war eine gute Idee gewesen. So konnte keiner etwas ahnen, während sein Plan im Hintergrund immer weiter voranschritt. Nicht mehr lange… Nein, er würde sein Gesicht nie zeigen. Viel zu groß war die Wahrscheinlichkeit, dass es ihn verriet. Viel zu groß die Wahrscheinlichkeit, dass er in einer seiner aggressiven Phasen war, wenn ihn jemand auf der Straße erkannte. Sein Gesicht würde weiterhin ein Geheimnis sein.

Ein Mysterium, eine unidentifizierbare, gefühlslose, kalte Maske. Das war es, was er für sie war. Seine Millionen Fans und Hater. Für sie war er es ebenso wie für die Personen, von denen er sich gerade verabschiedet hatte. Eine Gruppe von Leuten, die er nur durchs Internet kannte. Eine Gruppe von Leuten, mit denen er mehrmals die Woche Videospiele spielte und diese Aufnahmen dann auf YouTube hochlud. Auch abseits von der Videoplattform redete er manchmal mit ihnen. Aber nie über seine echten Probleme und Gedanken. Auch vor ihnen bewahrte er seine Maske. War lustig, nett und aufgeschlossen. Nur seine Familie und sein Psychiater wussten von seinem aufbrausenden und aggressiven Ich, das sich selbst nicht unter Kontrolle hatte. Und weil seine Zuschauer genau das nicht sehen sollten, trug er weiter seine Maske. Sie war wie ein Schutz vor seiner wahren Identität.

Und gleich musste er sie schon wieder aufsetzen. Doch vorher musste er sich abregen. Mit einem unheimlichen, krankhaften Lächeln stand er auf und schlug gegen die Wand. Mehrmals. Immer wieder ließ er seine Fäuste dagegen trommeln. Er musste aufpassen. Seine Knöchel sollten nicht wie beim letzten Mal aufplatzen. Aber in diesem Tempo konnte er lange durchhalten. Trotzdem hörte er auf, als das Ziehen zu stark wurde. Seine Familie machte sich auch so schon zu große Sorgen um ihn.

Nach einer halben Stunde konnte er seine Maske endlich wieder ablegen. Diesmal schlug er noch doller gegen die Wand. Als er sich dazu durchrang aufzuhören und zu seinen Knöcheln runter sah, waren sie aufgeschürft und bluteten. Fluchend zog er die Ärmel seines Pullis darüber. Wenn er Glück hatte, konnte er sie verstecken, bis die Verletzungen abgeklungen waren. Dann musste er seinen Plan weiter aufschieben. Seufzend ließ er sich auf sein Bett fallen und zählte die Stunden zum Abend. Als endlich kein Geräusch mehr im Haus zu hören war, ging er langsam zur Tür und schlüpfte hindurch. Die Treppe lag in völliger Dunkelheit vor ihm. Licht anmachen wollte er nicht. So schlich er durch das ruhige Haus, bis zur Kellertür. Als er diese hinter sich geschlossen hatte, betätigte er den Lichtschalter und stieg hinab in einen kleinen, kalten Raum, der sich unter ihm erstreckte.

Zielsicher durchschritt er ihn, ungeachtet der Gegenstände die überall abgestellt waren. Vergessene, unbrauchbare Gegenstände. Bis auf einen Gegenstand, der sich an der hinteren Wand befand. Grinsend streckte er seine Hand aus und betätigte den Schalter, der sein Leben verändern sollte. Ein Ruck zog sich durch das Haus und dann ließ sich ein Surren vernehmen. Es schwoll immer mehr an, als würde es auf einen großen Moment hinfiebern. Immer höher und höher wurde es, sodass es ihm in den Ohren schmerzte. Und dann brach es ab. Nur das Klingeln in seinen Ohren blieb. Seine Hand war immer noch um den Schalter gelegt und sein Gesicht wurde von einem irren Grinsen geziert. Nur ganz langsam fing er wieder an sich zu regen. Begann damit, seine Finger zu lösen. Bedächtig stand er vor der dunklen Kellertür, bis er die soeben gelösten Finger benutzte, um sie zu öffnen. Ein Windstoß fuhr ihm ins Gesicht und zerzauste seine Haare, doch das konnte seine Euphorie nicht stoppen. Er hatte es geschafft. Hinter der Treppe erstreckte sich nicht länger das öde Haus, in dem er seit seiner Kindheit lebte, sondern eine von Gras überzogene Landschaft.

An einigen Stellen ragten düstere Tannen in den Himmel und in der Ferne ließen sich einige Häuser erkennen. Erneut glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Auf diesen Moment hatte er zu lange gewartet. Jetzt konnte er seine Maske ablegen. Doktor Verzögerung saß verzweifelt an seinem Schreibtisch. Schon seit einer Woche bereitete ihm sein Patient Kopfschmerzen. Dieser war zwar schon seit Jahren bei ihm in Behandlung, aber dessen Lage hatte sich rapide verschlechtert. Sein Patient befand sich in seiner eigenen Welt, die niemand außer ihm sehen konnte. In den Akten des Arztes ließ sich einfach kein Auslöser für die plötzliche Verschlechterung des geistigen Zustands finden. Seine Hoffnung galt der nächsten Sitzung mit ihm. Doch schon als er in das Zimmer trat, jagte sein starrer Blick dem Psychiater einen Schauer über den Rücken. Dieser versuchte es bestmöglich zu überspielen und begrüßte seinen Patienten mit einem: »Guten Morgen«. Keine Reaktion. Auch der Rest des Gesprächs verlief ähnlich. Außer einem kurzen Kopfschütteln zeigte der andere keine Reaktion. Doch als Herr Verzögerung schon fast auf dem Gang vor dem Zimmer stand, hörte er ein kurzes Murmeln, das einem »Tötet ihn«, beängstigend ähnlich klang. Danach hatte er es noch eiliger, in sein Büro zurückzukehren.

Nach mittlerweile zwei Wochen war der Psychiater immer noch keinen Schritt weiter. Der Auslöser musste sich irgendwo in den Gedanken des Patienten befinden. Denn sonst hatte er keine Anzeichen finden können. Es sei denn dessen Familie hatte ihm etwas Wichtiges verschwiegen. Er wurde aus seinen Gedanken geschreckt, als plötzlich ein langgezogener Schrei durch die Gänge hallte. »Verletzte Patientin in Gang 20 vor Zimmer 4«, tönte es daraufhin durch die alte Sprechanlage der Klinik. Herr Verzögerung sprang auf. In diesem Zimmer war der Patient untergebracht, der ihm seit Wochen Kopfschmerzen machte. Mit dunkler Vorahnung bahnte er sich durch die nervösen Ärzte, die durch die Gänge wuselten und betrat Zimmer 4. In dem Raum herrschte das reinste Chaos und das Bett stand unter dem aufgebrochenen Fenster. Manuel war weg.

von Emma Hertzog

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