»Herzlich willkommen, Herr Grefeld, folgen Sie mir, heute beginnt ein neuer Karriereabschnitt. Ich bringe Sie gern zu Ihrem Büro.«
In zwei Wochen wird Taddäus Grefeld sein dreißigstes Jubiläum als Angestellter der Kraftstoff-Kühne AG feiern. Und schon heute hat er es geschafft. So viele Jahre der Loyalität und Vernachlässigung von Leidenschaften haben ihm die erhoffte Beförderung ins Management eingebracht. Er wird gleich zum ersten Mal sein Einzelbüro betreten, mit Eichenholzschreibtisch und Ledersessel. Die Konjunktur ist gut zur Zeit.
Herr Grefeld schreitet langsam durch das Foyer des Gebäudekomplexes A. Sein Magen grummelt etwas, als hätte er falsch gegessen. Er hat heute Porridge gehabt, wie meistens. Meistens ging es ihm danach nicht so.
»Na, Herr Grefeld, aufgeregt?«
Er trägt seinen besten, einen grauen Leinenanzug, besonnen am Morgen ausgewählt. Ein Geschenk seiner Eltern zur Silberhochzeit. Die hatte letztes Jahr in kleinem Kreise stattgefunden. Taddäus Grefeld wird jetzt von der Sekretärin durch die Flure des Gebäudekomplexes A der Kraftstoff-Kühne AG geführt. Er denkt an den Blick aus seinem Küchenfenster und an die Krähe die heute auf dem Fenstersims gesessen hatte. Denkt ans Porridge, in dem er nebenher gestochert hatte. An die Fahrt im 10er. Da war’s losgegangen.
»Herr Grefeld?«
»Anhänger« von Carlotta Braasch
Ich schlängle mich durch die Massen der Einkaufsmall. Gesprächsfetzen dringen aus allen Richtungen an meine Ohren. Ich schlüpfe in einen kleinen Laden. Als ich eintrete, schlägt mir warme Luft entgegen. Ein wohliger Schauer läuft mir über den Rücken. Es riecht wie früher bei meiner Oma.
Der Laden ist mit unzähligen Plüschtieren und so einem Zeug zugestopft. Kuscheltiere in allen möglichen Farben und Größen. Ich lächle. Vielleicht finde ich ja hier endlich ein Geburtstagsgeschenk für meine kleine Cousine. Etwas Blaues im Augenwinkel zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist ein Delfinanhänger. Ich nehme ihn in die Hand, um ihn näher zu betrachten.
Mein Handy klingelt: Ich zucke zusammen. Dabei rutscht mir der Anhänger aus der Hand. Ich hocke mich hin und will ihn aufheben. Ein Fußpaar tritt in mein Blickfeld.
»Lange nicht gesehen, Fleur.« Bens Stimme ist rau und sanft zu gleich.
Ich richte mich auf und schaue ihn an.
»Zu spät« von Paul Eliah Ziese
Du wachst auf, doch du bist noch zu müde. Du drehst dich wieder um und ziehst die Bettdecke enger um dich. Du schließt die Augen. Aber es ist hell. Normalerweise dürfte es um diese Uhrzeit nicht hell sein. Du blickst auf die Uhr, die auf deinem Nachttisch steht. Die Uhr zeigte zehn Minuten vor acht an.
Du hast verschlafen und deine Eltern haben dich nicht geweckt.
Du musst los!
Eilig springst aus dem Bett und fischst ein paar Kleidungstücke aus deinem Schrank. Du hast keine Zeit zu Duschen und ziehst dich in Windeseile an. Dann rennst du in die Küche, reißt den Kühlschrank auf und siehst, dass eine Dose mit Broten darin liegt. Du packst die Dose und stopfst sie in deinen Ranzen. Danach siehst du noch eine Flasche Erdbeermilch. Auch die schnappst du dir und packst sie ein. Schließt die Kühlschranktür und stürmst aus der Küche in den Flur. Du ziehst dir die Schuhe an und wirfst dir eine Jacke über. Schnappst dir noch schnell deinen Schlüssel und steckst ihn in die Jackentasche. Dann öffnest du die Haustür, rennst in den Garten, wo du dein Fahrrad holst.
»Herr Müller« von Clara Leonore Paulick
Er legt gleich los, will mit der nächsten Lektion beginnen, und geht einfach davon aus, dass alle verstehen, wovon er redet und dass alle voll im Thema sind.
Draußen regnet es. Die Blumenkästen auf dem Schulhof werden überschwemmt. Regentropfen trommeln auf das Blechdach der Fahrradständer.
»Gibt’s denn keinen Tafeldienst?«, fragt Herr Müller genervt. Keine Reaktion.
Fast die ganze Klasse guckt mit leeren Augen nach vorne. Jemand sabbert auf den Tisch. Leises Gemurmel und Scharrgeräusche schweben durch den Raum. Luise fühlt ein Stechen im Magen. Sie fröstelt und schaut in ihr Heft. Wütend hingekritzelte Striche auf der ganzen Seite. Ganz lange, hässliche Striche. Aber keine Kurven. Sie hatte es wirklich versucht und trotzdem nichts begriffen.
Mitten in einem gefühlt endlosen Monolog von Herrn Müller hebt sie ihren Arm. Jetzt ist es still. Er schaut irritiert über seine Brille hinweg. »Ja, bitte?«
Er nennt seine Schüler nie beim Namen. Manchmal fragt Luise sich, ob er überhaupt weiß, wie sie heißt.
»Ich wollte Sie fragen …«
Sie zögert. Jetzt ist ihr heiß. Am liebsten würde sie fragen: »Wozu brauche ich bitte diese bescheuerten Kurven?« Aber sie beherrscht sich. Ihr Blick wandert wieder über ihr Heft. Nie, nie würde sie das brauchen. Aber Herr Müller hatte gesagt, es sei wichtig. Die Zahlen verschwimmen vor ihren Augen. Sie sagt: »Also, es ist so, ich denke, ich und viele andere haben die Hausaufgaben nicht ganz verstanden, könnten Sie vielleicht das von der letzten Stunde noch einmal erklären?«
»Sauber« von Allegra Tiedemann
Ich komme immer dann, wenn alle schon weg sind.
Ich gehe durch die schwere Tür ins Schulgebäude. Am Getränkeautomaten bleibe ich stehen, schmeiße ein paar Münzen ein, drücke auf den Knopf neben dem Colaschild und kurz danach fällt laut polternd eine Colaflasche in das Fach hinab. Die Flasche ist eiskalt. Angenehm.
Ich ziehe den Generalschlüssel aus meiner tiefen Manteltasche und stecke ihn in das Schloss zum Putzraum. Drinnen riecht es nach Reiniger und alten Lappen. Die Waschmaschine mit den Putzlappen ist fertig gelaufen. Ich mach sie aus und hänge meinen Mantel an den Haken. Dann greife ich nach dem Putzwagen und stelle alle Utensilien hinein, die ich gleich für meinen Rundgang benötige. Putzlappen und Schwämme, verschiedene Putzmittel, Eimer, Wischmopps und Handschuhe. Zuletzt greife ich nach meinem Handy und den Kopfhörern und schiebe den Wagen in den Flur. Meinen Rundgang starte ich immer in der Mensa, dann geht es zu den Lehrerzimmern und in die Klassenzimmer und anschließend in die Fachräume. Als letztes putze ich immer die Turnhalle.
In der Mensa tauche ich den Wischmop in das noch saubere Wasser im Eimer. Jeden Tag überlege ich mir ein anderes Muster in dem ich den Boden wische.
Gestern hab’ ich in der Ecke neben der Tür angefangen und mich in Zickzackmustern durch den ganzen Raum gearbeitet.
Heute fange ich in der Mitte an und wische den Raum in einem immer größer werdenden Kreis. Die Muster dürfen sich nicht wiederholen. Einmal hab’ ich mich versehentlich verwischt und musste wieder von vorne anfangen.